Übern Wintern

Das «Infinite Jest»-Logbuch (3)

Mit Exkursen zu «Wonder Boys», Postmoderne und «Frühlings Erwachen»

0027<|>1052. Kapitel 2. Nacht dunkel; plötzliche Kühle; Schwache Böen und Regenschauer; übrige Weinseligkeit.

Was ich mal

Was ich mal wissen möchte: Woher kommt die Fixation auf das Motiv Wolken in den ganzen englischen Publikationen von und um «Infinite Jest?»

Ein Drogensüchtiger richtet sich zu Hause für Tage langen Rausch ein. Er hat an alles gedacht (das macht die Erfahrung). Alles, was noch fehlt, ist die Dealerin.

Kapitel 2 spielt im Year of the Depend Adult Undergarment. Kapitel 1 passierte im Year of Glad. Werde ich dahinter kommen, wie die Reihenfolge der Jahre ist?

Erdedy ist unser Hauptcharakter für das heutige Kapitel. Erdedy plant einen Marijuana-Rausch. Er ist ein sehr erfahrener Grasraucher, darum weiß er, worauf er sich einlässt. Gleichzeitig macht er immer wieder den Fehler, seine Konsüme jeweils als den allerletzten zu bezeichnen und seine ganze Ausrüstung inklusive Bong hinterher weg zu werfen.

Er hat sich eine neue Bong gekauft. Er weiß, welche Abwesenheitsnotiz er auf seinem Anrufbeantworter hinterlassen wird. (Hat er keine Angst, dass etwas Schlimmes passiert in der Zeit, in der er sich abnabeln will? Dass seine Familie ihn erreichen möchte oder so?) Er wird sein Auto verstecken. Für die vier Tage Rausch hat sich mit Heißhungerlebensmitteln eingedeckt sowie mit Anti-Sodbrennen-Medizin für nach den Heißhungeressen. Er hat auch an Vaseline gegen Wundmasturbieren gedacht. Überfällig ist nur seine neue Dealerin.

He had never been so anxious for the arrival of a woman he did not want to see.*

(Seine Drogenhändler müssen jedesmal neue sein, denn weil er ja jedes Mal zum letzten Mal kifft, brennt er zu den Einzelhändlern jeweils alle Brücken ab.) Die Frau ist nicht hauptberuflich Drogenhändlerin. Eigentlich entwirft sie Kulissen für eine Theatertruppe, die ausschließlich deutsche Stücke aufführt und ein Wedekind-Festival veranstaltet.

Ah, Frank Wedekind. Ich habe «Frühlings Erwachen» kennen gelernt, als ich den Plan verfolgte, alle Hamburger Lesehefte in der Reihenfolge ihrer Bestellnummern zu lesen. «Frühlings Erwachen» von 1891 handelt von Teenagern im verklemmten deutschen Kaiserreich, die sich von ihrer Pubertät überraschen lassen. Natürlich gibt es Schwangere und Tote. Ich war begeistert, wie ehrlich so ein über hundert Jahre alter Text sein kann (da hängt Hirnmasse in Büschen herum) und auf makabren Humor stehe ich sowieso. Zum Beispiel wenn das Lehrerkollegium versucht, der Sex- und Selbstmord-Situation Herr zu werden, aber sich nicht einigen kann, ob das Fenster offen stehen darf oder ob es zieht. Das ist wie Loriot.

Am Goethegymnasium haben sie es in Deutsch behandelt und ich dachte: Lieber so ein cooles Buch als irgendein anderes. Und ich habe es meiner eigenen Deutschlehrerin vorgeschlagen und wir haben es in der 11. Klasse tatsächlich durchgenommen. Keiner mochte es außer mir und meine ganze Klasse war sauer, weil ich ihnen «Frühlings Erwachen» eingebrockt hatte.

Erdedy hat den genialischen Plan, diesmal besonders viele Drogen und so schnell zu rauchen, dass es ihm eklig wird und er nie wieder Lust hat auf Hasch. (Später erinnert er sich, wie er es sich schon einmal erfolgreich mit Drogen versaut hat und das hat ihn dann auch nicht davon abgebracht. Er stellt aber nicht diese Verbindung her, höchstens der Leser).

Der drittpersonige personale Erzähler folgt all diesen Überlegungen in Erdedys Kopf. Mit Erdedy, der ja auf Entzug ist bis die Frau mit den Drogen kommt, schweift der Erzähler manchmal ab. Zum Beispiel zu einem schwarzen Insekt in seinem Küchenregal, das ihn belästigt.

Ein achso Avant-Garde-Roman, postmodern und alles, aha, soso. Und dann fängt er so konventionell an? In jedem der ersten Kapitel nimmt sich die Exposition systematisch genau einen Protagonisten vor?

Was macht eigentlich einen postmodernen Roman aus? Ihre Dicke haben sie oft gemeinsam {Thomas Pynchon und so; ich bin versucht zu sagen: Grady Tripps Nachfolgeroman zu «Arsonist’s Daughter», aber das ist ja nur ein fiktives Buch aus «Wonder Boys».

Hast du in letzter Zeit mal «Wonder Boys» geschaut? Ich sehe mir den ja öfter an. Er ist einer meiner Top-4-Filme über Adoleszenz. Zusammen mit «Igby goes down», «Garden State» und, neuerdings, «Nick & Norah’s Infinite Playlist».)

Wobei der Held in «Wonder Boys» eigentlich der Lehrer ist und nicht der Schüler. Letzterer ist James Leer (Tobey Maguire), ein verfreakter junger Schriftsteller, der seinen Creative-Writing-Professor Grady Trip (Michael Douglas) per Akklamation zu seinem Mentor kürt. Trip findet, das ist zu viel der Ehre. Er hat selbst nicht alle Felle im Trockenen. Allein an dem exemplarischen Winterwochenende, das den Plot abgibt, verlässt ihn seine Frau; wird seine Geliebte und Chefin (und Frau seines Vorgesetzten) von ihm schwanger; erfährt er, dass sein Auto einen wahren Eigentümer hat;

QUENTIN “Q” MOREWOOD:
What was that?

GRADY:
I just got my hood jumped on.

[…]

JAMES:
Someone jumped on your car with their butt.

GRADY:
How can you tell?

JAMES:
Well you can see the outline of a butt.

an diesem selben Wochenende erschießt sein Student den Hund seines Vorgesetzten und stiehlt selbigem Vorgesetzten einen wertvollen Fetisch; versucht seine cowboybestiefelte Lieblingsschülerin/Untermieterin (Katie Holmes) ihn zu verführen; und das ganze Literaturfest-Wochenende über ist auch noch sein Lektor (Robert Downey jr.) in der Stadt, um Grady wegen seines zweiten Romans Druck zu machen (und seinen Studenten James zu verführen).

Der Roman, den Grady schreibt, will einfach kein Ende nehmen. Er hat schon 2611 (einzeilige) Schreibmaschinenseiten. Darum sind es auch schon acht Jahre seit seinem Erfolgsbuch «Arsonist’s Daughter» und alle schieben sein One-Hit Wonder fälschlicherweise auf Writer’s Block. Es ist aber fehlende Selbstbeherrschung, die sein Buch unmöglich macht. Hannah meldet ihm zurück:

HANNAH:
Grady, you know how in class how you’re always telling us that writers make choices?

GRADY:
Yeah.

HANNAH:
And even though your book is really beautiful, I mean amazingly beautiful, it’s—
It’s at times, it’s erm—
very detailed. Ehm you know with the genealogies of everyone’s horses and—eh—dental records and so on. And I could be wrong, but it’s just, it sort of reads in places like you didn’t really make any choices. At all.
And I was just wondering if it might not be different if when you wrote you weren’t always—under the influence.

Womit wir wieder bei Marihuana wären. Ich habe vergessen zu sagen, dass Professor Trip sehr viel Gras raucht. Er trinkt auch viel Whiskey, aber mehr um das Codein runterzuspülen, das er gegen die Schmerzen braucht. Er hat nämlich eine Bisswunde am Unterschenkel von dem Hund, den James erschossen hat

JAMES:
You’re mad at me because I shot your girlfriend’s dog.

GRADY:
It wasn’t my girlfriend’s dog. It was her husband’s.

und den James später in seinem Bett drapiert, damit seine Großeltern nicht merken, dass er nicht zu Hause schläft.

Bis dahin wird der Hundekadaver (der Hund gehört wie gesagt Gradys Vorgesetztem, einem Englisch-Professor, und heißt deshalb Poe) in Gradys Hehlerauto durch die Gegend gefahren. Ich muss hier kurz einen meiner Lieblingssprüche aus «Wonder Boys» einflechten, weil es gerade passt:

JAMES:
That is a big trunk. It holds a tuba, a suitcase, a dead dog and a garment bag almost perfectly.

GRADY:
Ya, that’s just what they used to say in the ads.

«Wonder Boys» ist insofern paradox, als er sehr postmodern ist in vieler Hinsicht, aber eben nicht in der Un-Ökonomie-Hinsicht. Er ist nicht ganz zwei Stunden lang und dabei noch sehr dicht gepackt. Ich schaue ihn zum Beispiel mehrmals im Jahr und bis jetzt hat es mich noch nie gestört, dass ich weiß, was als nächstes passiert.

Die Romanvorlage von Michael Chabon ist mit 368 Seiten ein normal starkes Buch, würde ich sagen. (Und hat dem Film nichts voraus. Deshalb halte ich mich an den Film.)

Postmodern ist er aber ganz sicher in der Metafiction-Hinsicht. «Wonder Boys» ist voller Schriftsteller und werdender Schriftsteller. Es gibt viele Einblicke in die Ausbildung von Schriftstellern, in das Getriebe von Literatur und in den Literaturbetrieb. Und jeder Charakter denkt irgendwie in Literaturmustern.

JAMES: (nach Experimenten mit Whiskey und Codein)
It was embarrasing. They had to carry him out.

GRADY:
Is he all right?

CRABTREE:
He’s fine. He’s narrating.

JAMES:
They were going to the men’s room. But—will they make it in time?

ANTONIA/TONY: (Die von Crabtree versetzte Drag Queen)
I need a ride.

GRADY:
I’m your man.

Die letzten beiden Zeilen gehörten jetzt nicht zu meiner These mit den Literaturmustern, aber sie waren einfach so ein guter Spruch und ich wollte das Zitat nicht entmannen.

«Wonder Boys» ist jetzt kein perfekter Film oder so. Ich finde zum Beispiel den Einstieg ziemlich holprig. Wir treffen Grady, James und Hannah an dem Freitagabend der Eröffnung von WordFest im Writers’ Workshop. Die Exposition passiert per schlechtem Voice-Over.

Zweiter Nerv-Faktor ist für mich das hohle Marilyn-Monroe-Motiv (as in Motif). (Obwohl es narrativ un-amputierbar ist, siehe James’ morbide Faszination mit tragischen Gestalten der Schwarz-Weiß-Ära.) Aber kleine Schwächen sind kein Grund, dass der Film in einem Jahr zweimal floppen musste. (Er wurde mehrere Monate nach seiner ersten Veröffentlichung mit überarbeitetem Werbeauftritt noch einmal in die Kinos gebracht). Ich glaube, ich gehöre zu dem Dutzend, das «Wonder Boys» zufällig im Jahr 2000 im Kino gesehen hat. Die Oscarverleihung, bei der ein dämonischer Bob Dylan für den Titelsong »Things have changed« gewann, war die erste, die ich live verfolgt habe.

«Wonder Boys» könnte nun wirklich ein größerer Kultfilm geworden sein. Schwarzer skurriler Humor gekoppelt mit einer Wohlfühl-Welt, ich bitte dich. (Zu den Szenen, in denen ich am liebsten in den Film hinein kriechen würde, gehören James und Gradys Treffen vor dem Gaskell-Haus – in einer knisterkalten Winternacht in Angesicht eines eiskristallenen Gewächshauses –; und den kalten Samstagmorgen, an dem Grady sich in einem verkaterten Haus mit seinem unpassenden Literaturbademantel an seine Schreibmaschine setzt.)

Ich komme nochmal auf Hannahs Plädoyer für ökonomisches Schreiben zurück, das der ganze Grund für diesen Exkurs war: „Writers make choices.“}

Ich habe also nicht nur geträumt, dass es mal etwas galt, sich konzis auszudrücken und zu beschränken. Nicht abzuschweifen.

Ist postmodern also das Zuviel? Ein klassisches Ausschlusskriterium für gute Bücher?

Ist die Postmoderne vielleicht kein Programm, sondern ein Symptom des US-amerikanischen Einbruchs des Lektoratssystems?

Die Gleichung postmodern=schlecht geschrieben geht nicht auf, sonst gäbe es nicht so viel Lob für «Infinite Jest» von Leuten, die es tatsächlich gelesen haben. Aber «Infinite Jest» ist mit Sicherheit kein Pageturner von Anfang an. (Okay, ist «Wonder Boys» ja auch nicht, wie oben gezeigt. Der Film wird nach zehn Minuten erst gut, der «Infinite-Jest»-Entsprechung von 70 Seiten.)

TP=teleputer

Meine Entdeckerfreude ist natürlich versaut, weil ich schon so viele Rezensionen und Zusammenfassungen gelesen und gehört habe. Ich weiß, dass «Infinite Jest» in einer Zukunft spielt und dass privatwirtschaftliche Firmen die Zeitrechnung sponsorn und jedes Jahr nach einem Konsumartikel benannt ist.

Der erste Hinweis auf ein bisschen Science-Fiction findet sich auf Seite 18, als Erdedy einen Anruf tätigt, und zwar bewusst „just audio“.

Es stellt sich heraus: Das ganze Kapitel bleiben wir in Erdedys Kopf, der hibbelig in seiner Wohnung herum hängt. Wann kommt die Drogenfrau? Wann kommt die Drogenfrau? Wo bleibt sie nur? Seitenweise gibt es keine Absätze. Gedankensprünge finden geradeaus statt, selbe Zeile. Ich habe meine erste Endnote gefunden (auf Seite 23); es ist aber nur eine Worterklärung, kein Exkurs oder gar ein ganzer Essay wie manchmal bei David Foster Wallace.

Auf unendlicherspass.de lesen sie alle Endnoten am Stück ganz am Schluss der Lektüre. Warum denn? Wer würde denn so etwas machen?

Da fliegt mir ein riesiges Insekt durchs Gesichtfeld, genau zwischen meinem Buch und meinen Augen. Das habe ich mir nicht ausgedacht. Ich bin nicht nur abgelenkt, ich erschrecke mich so, dass mir mein Bleistift runter fällt. – Was soll der Scheiß? Ich dachte dieses Jahr wären die Insekten schon tot für den Winter? Sonst hätte ich doch niemals bei Licht gelüftet.

Die Pointe ist: Am Ende des Kapitels klingeln Tür und Telefon gleichzeitig und Erdedy hängt sich auf (aufgehängt as in “Microsoft Windows froze”) an der Entscheidung, was zuerst zu beantworten** sei. Er bleibt starr und leer auf dem Fleck.

*S. 23.

** Ich habe einen Anglizismus gefunden. Ich lasse ihn leben. – Im Gegensatz zu dem Schreckinsekt.

Bisherige Logs: 1: Der Anfang der Metapher2: Monster spricht

3 Kommentare

Eingeordnet unter 06 Martin Josts Kulturkonsum, »Infinite Jest«-Logbuch, Martin liest

3 Antworten zu “Übern Wintern

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