The X-Mas Files
Von Christopher Mas
Es handelte sich um einen großen Frachtlift. Mit Alf und mir standen noch fünf Weihnachtsmänner mit schweren Säcken, sieben Heinzelmännchen und ein paar Gehilfen im Liftkorb. Und als die Türen sich automatisch öffneten, stand ich plötzlich mitten in der Wüste Nevadas. Wir waren bis auf die oberste Ebene von Area 51 gefahren und hier draußen wurde es bereits dunkel. Alle drängten sich aus dem Fahrstuhl. Auf dem weiten Betonfeld standen übergroße Garagen, Flugzeughangars sollte man meinen, von deren Toren drei geöffnet waren und vor ihnen standen Schlitten. Ich rede von den wahren Weihnachtsmannschlitten mit einem mehrreihigen Rentiergespann davor und dem Weihnachtsmann auf dem Bock und mit Geschenken und Geschenksäcken hinten auf der Ladefläche.
„Was zeigen Sie mir noch alles?“, wollte ich von Alf wissen.
„Ich habe Ihnen doch unten doch versprochen, dass ich Sie alles sehen lasse. Ich habe vor, Sie auf diesen Schlitten zu schleusen und Sie mitfliegen zu lassen.“
„Wohin, bitte, wird dieser Schlitten fliegen?“, fragte ich und glaubte nicht einmal, dass er überhaupt flog.
„Nach Norwegen.“
„Bitte? Was wollen wir denn in Norwegen?“
„In Norwegen lebt der wahre Weihnachtsmann, dort werden die Geschenke produziert und von dort werden sie zu großen Teilen ausgeliefert.“
„Norwegen? Der wahre Weihnachtsmann? Warum gibt es dann Area 51?“ Zu viele Informationen für mich.
„Nun ja. Die Vereinigten Staaten von Amerika erklärten sich vor einigen Jahrzehnten bereit, der Organisation des Weihnachtsmannes zu helfen und gründeten das Weihnachtsministerium und bauten Area 51. Und nun werden auf dieser Basis Geschenke zwischengelagert und von hier aus in ganz Amerika verteilt. Und auf dieser Basis werden von unvorstellbar leistungsfähigen Computern alle Geschenke aller Kinder dieser Welt logistisch verwaltet.
„Und in Norwegen werden sie produziert. In Norwegen wohnt der wahre Weihnachtsmann. Und von Norwegen aus wird natürlich die Umgebung Norwegens beliefert. Europa. Jedenfalls ist Area 51 nötig, weil mit der Erschließung Amerikas die Weltbevölkerung anstieg und Norwegen nicht mehr die Kapazitäten hatte, auch diesen Erdteil zu versorgen. Deshalb kam wie gesagt die Zusammenarbeit mit den USA im Völkerbund sehr gelegen für die Norweger.“
Wir waren mittlerweile über das halbe Flugdeck marschiert und Alf hatte mich dazu gebracht, auf die Ladefläche eines der Schlitten zu steigen und mich flach hinzulegen. Ohne mich zu sehen schmissen Weihnachtsmänner und Gehilfen Geschenksäcke auf mich, die Tonnen zu wiegen schienen. Ich blieb aber weiter neugierig und konnte nicht aufhören, Alf, der neben dem Schlitten, auf dem ich lag, stand, weiter auszufragen:
„Wer ist nun der wahre Weihnachtsmann?“
„Sehen Sie, früher gab es nur einen einzigen. Der ist inzwischen ziemlich alt – fast zweitausend Jahre. Aber die Bevölkerung und vor allem die christliche beziehungsweise heidnische Bevölkerung wuchs stetig. Ein Mann konnte das nicht mehr bewältigen. Der wahre Weihnachtsmann ist jetzt gewissermaßen im inneren Dienst. Es gibt aber zwanzigtausend weitere Weihnachtsmänner, die eimal im Jahr alle Kinder auf der Welt bescheren.“
„Sagen Sie nur – wo kommen zwanzigtausend Weihnachtsmänner her? Ich denke es hat mit nur einem angefangen und ich habe noch nie etwas über eine Weihnachtsfrau gehört –“
„Das ist ein großes Rätsel. Mit fünf Dollar sind Sie bei der Wette dabei. Der wahre Weihnachtsmann macht ein Geheimnis aus der Herkunft seiner zwanzigtausend Nachkommen.“
Alf näherte sich mir und fügte dann verschwörerisch hinzu: „Aber es wird gemunkelt, dass er, bevor er zum Weihnachtsmann auserkoren wurde, in seiner Jugend mal mit einer gewissen Jungfrau Maria zusammen war.“
Aha.
Irgendwer kam. Über mir lagen inzwischen so viele Säcke, dass ich nicht mehr hinaus schauen konnte. Der Schlitten war jetzt voll beladen und ich gehörte zur Fracht. Ich hatte eine Ahnung, dass es der Zwerg war, der gekommen war.
Zerknirscht wie ich ihn kennen gelernt hatte, sprach er Alfred an: „Was machen Sie denn hier oben auf dem Flugdeck? Ich dachte, Sie verbrächten Ihr Leben seit Jahren nur noch in den Archiven.“
„Naja. Ich dachte, nach diesen vielen Jahren könnte ich mir mal wieder ein bisschen frische Luft gönnen.“
„Wie Sie wollen“, knirschte es. „Aber gehen Sie vom Startplatz, schnell! Die Wüste ringsrum ist weitläufig genug für einen Abendspaziergang.“ Der Zwerg stieg auf den Bock. Er würde mich, den blinden Passagier, nach Norwegen fliegen. Au Backe!
„Ach, Alf ,“ sagte der Zwerg noch, „Was ist eigentlich mit Ihrem Schützling, diesem Reporter?“
„Der… ist im Begriff rehabilitiert zu werden.“
„Die alte Methode, hoffe ich. Er weiß schon mehr als seine Freunde, die wir gleich zusammengeschossen haben.“
„Ja. Gute Reise. Und genießen Sie die Show!“, rief Alf dem Zwerg zum Abschied nach, meinte aber mich.
Durch einen Lautsprecher hörte man jemanden sagen: „Start frei für alle Schlitten nach Norwegen!“ Und dann ging es los.
Wohin ging es los? Nach Norwegen, klar. Aber in eine unbekannte Zukunft für Christopher Mas. Wie geht es morgen weiter? Exklusiv auf martinjost.eu.
© 1998, 2009 Martin Jost