The X-Mas Files
Von Christopher Mas
Die Rentiere legten sich in die Riemen, die Kufen des Schlittens kratzten über den Betonboden des Flugdecks. Dann ließ die Schwerkraft langsam los. Der Schlitten fuhr im seichten Flug in schwindelige Höhen. Aber es war schöner als in jedem Flugzeug. Kein einziger der Säcke auf der Ladefläche über mir wackelte trotz der Schräglage, man spürte keine Übelkeit und keinen Druck in den Ohren, man hörte nur den Wind rauschen und die Glöcklein im Geschirr läuten. Ich hörte nur die Kommandos des Zwerges an die Rentiere und kurz nach dem Start nur den Knall beim Durchbrechen der Schallmauer irgendwo hinter uns. Dann wurde es kühl um einen und still. Nicht wirklich still, man hörte noch immer die Glöckchen und den Wind sausen.
Ich verschaffte mir einen Blick nach unten. Ich sah nichts. Ich sah nur die Landschaft vorbeirauschen. Bald erkannte ich Schnee unter mir, Wolken. Bald darauf war mir so kalt, dass ich das Bewusstsein verlor.
Kapitel 6. Norwegen
„Muss der blöde sein! Fliegt ohne Mantel und Sauerstoffmaske in einem kabinenlosen Weihnachtsmannschlitten in 10.000 Metern mit!“ Das war das erste, was ich hörte. Es war eine unglaublich schöne Stimme und ich nahm sie nicht über meine Gehörgänge war, sondern sie war in mir. Und sie stammte von dem Engel, der sich gerade über mich beugte.
„Er sollte ja auch nicht mitfliegen“, knirschte der Zwerg, der neben der Pritsche stand, auf der ich lag. „Wie kamen Sie auf meinen Schlitten?“
„Ich wollte schon immer mal nach Norwegen“, sagte ich.
„Kommen Sie mit!“, verlangte der Zwerg. Ich stand vom Bett auf und sah mich in einem gemütlichen Raum, dessen Wände aus Holz bestanden und der von einem Kaminfeuer und einigen großen Kerzen erhellt und erwärmt wurde. In der Ecke stand eine geschmückte Tanne.
Im ersten Moment sah alles nach einer einfachen Blockhütte aus. Aber ich lag in der Krankenstation der norwegischen Weihnachtsmann-Halle, die wesentlich gemütlicher war als die auf Area 51.
„Wo bin ich?“, fragte ich.
„Im größten unterirdischen Holzhaus der Welt, im Heim des wahren Weihnachtsmannes, in den weihnachtlichen Produktionsstätten und so weiter. Kommen Sie! Ich werde etwas finden, wo ich Sie einperren kann.“ Und wenn ich geglaubt hatte, wahre Hektik bereits in den Schächten von Area 51 beobachtet zu haben, so weiß ich nicht, wie ich das nennen soll, was ich als nächstes sah. Man konnte ganz einfach so gut wie keinen Schritt tun außerhalb der Krankenstation. Es kamen Wichtelmänner, Heinzelmänner, einfache Weihnachtsmanngehilfen, ich sah Elfen, Engel, Leute von UPS und einige in Overalls Gekleidete mit Handwagen voller Geschenkpakete und unverpackter Präsente. Ich wandelte, immer wieder leicht geschubst durch den Zwerg, durch die zwängenden Massen und immer wieder erblickte ich durch kleine Sichtlücken in der Masse die wunderbarsten Dinge – vor allem Frachtbehälter mit den wunderschönsten Geschenken, die man sich denken kann.
Ich glaubte jetzt langsam, dass an allem, was man mir erzählt hatte, etwas dran sei. Aber es konnte nicht sein! Jeder weiß doch, dass es keinen Weihnachtsmann und schon gar keine Weihnachtsmänner gibt. Und die Weihnachtsmänner würden erst recht nicht hier ihre Zentrale haben.
„Und wo bin ich, global gesehen?“
„Im tiefsten Norden Norwegens. Oder am Nordpol.“ Was zu befürchten war. „Ich weiß auch nicht genau, wie das hier heißt. Ich fliege doch nicht nach Karte.“
„Warum fliegen Sie überhaupt mit vollbepackten Weihnachtsmannschlitten durch die Welt ohne die Geschenke zu verteilen?“
Der Zwerg blieb noch immer grimmig und schien mich geradezu abstoßend zu finden für meine Neugier. „Fragen Sie nicht so viel! Das ist die Kunst der Logistik. Hier werden die Geschenke für die Kinder beider Hemisphären produziert, dann nach Area 51 in Amerika gebracht, eingelagert und verwaltet und dann werden die Geschenke für die Leute auf der norwegischen Halbkugel wieder hier her gebracht und ausgeliefert. Die für die amerikanischen Kinder bleiben, wo sie sind und werden von dort ausgeliefert.“ Er blickte ohne Unterbrechung so grimmig wie eh und jeh und nötigte mich, zielstrebig weiter zu gehen.
„Und was wird hier produziert? Ausgefallenes, das es nirgends zu kaufen gibt?“
„Nein, alles. Der Weihnachtsmann geht schließlich nicht einkaufen. Er hat eine eigene Werkstatt. Wir produzieren alles, was es auch zu kaufen gibt. Und Ausgefallenes.“
„Und wenn sich ein Kind nicht einfach irgendeinen Teddy wünscht, sondern die limitierte Bärchen-Ausgabe von Franklin Mint? Oder nicht einfach eine schöne Hose sondern eine Levis Fünfhundertirgendwas?“
„Dann produzieren wir die. Genaugenommen produzieren wir hier, in der norwegischen Basis, die Jeans, fliegen sie dann zur taiwanesischen Basis, wo sie äußerlich so verändert werden, dass sie als Levis durchgehen und dann werden sie in Area 51 eingelagert und von dort ausgeliefert zurück nach Norwegen oder an die amerikanischen Weihnachtsmann-Gläubigen.“
So klärten sich die interessanten Stories, die ich für mein Blatt schon bearbeitet hatte, eine nach der anderen: „Und die taiwanesischen Markenfälschungen, die außerhalb der Weihnachtszeit unsere Wirtschaft ruinieren?“
„Die Leute dort unten sind undankbar. Ein paar von den Markennachahmern machten sich selbstständig. Aber wenn sie das tun, geht meist Qualität verloren. Deshalb werden die häufig entdeckt. Und die gefälschten Weihnachtsartikel selten.“ Der Wichtelmann schien langsam Spaß daran zu haben, mir meine Fragen zu beantworten. „Aber richtig gut sind die da unten mit Computern. Wissen Sie, heutzutage gibt es 4-Jährige, die wünschen sich Pentium-II-Chips zu Weihnachten…
© 1998, 2010 Martin Jost