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Schriftsteller, Lyriker und Querulant Hans Magnus Enzensberger hat mit «Sanftes Monster Brüssel» einen Essay geschrieben, der irgendwo zwischen Unionslandeskunde, Beamtensatire und Polemik angesiedelt ist. Dem Geruch nach will er vor allem eins: in der Schule gelesen werden.
«Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas» ist als Edition-Suhrkamp-Sonderdruck erschienen, ein schmales Heft mit rund 70 Seiten und neun Kapiteln. Der Essay ist ein bisschen journalistisch in dem Sinne, dass Enzensberger recherchiert hat und genauso viel informiert wie polemisiert.
Er ist nicht politikwissenschaftlich in dem Sinne, dass Allgemeinplätze hinterfragt würden oder Zitierte immer namentlich genannt. In der Bibliografie stehen zwei Wikipedia-Artikel, aber nicht mit Datum ihres Abrufs.
Der Essay richtet sich auch an jemanden, der noch nie darüber nachgedacht hat, wie die Verwaltung der Europäischen Union eigentlich funktioniert und der sich auch nicht bewusst ist, welchen kulturellen Fortschritt die Union in den letzten Jahrzehnten gebracht hat. Kapitel I macht Jüngeren klar, wie ausländisch europäisches Ausland früher noch war. Es ist „Lob & Preis“ überschrieben und handelt das Gute ab, das Enzensberger über die EU sagen mag: „Fast ein ganzes Menschenalter ohne Krieg! Das ist eine Anomalie, auf die dieser Kontinent stolz sein kann.“
Kapitel II widmet sich der Kritik an Sprache und Propaganda der Union. Sprachkritik, die den Urheber als manipulativ entlarvt, ist gute intellektuelle Tradition – bei Enzensberger selbst («Die Sprache des SPIEGEL», 1957) wie bei George Orwell («Politics and the English Language») oder Victor Klemperer («LTI», 1947). Wobei Brüssel hier nicht als böse Hauptstadt der Gehirnwäsche weg kommt, sondern die Betonung auf dem sanften Monster liegt. Um nicht zu sagen, dem tolpatschigen*, unsensiblen. Fehlgriffe wie die Benamsung der EU-Minister als Kommissare zu kritisieren hat Hand und Fuß. Flach polemisch wird die Kritik am Bürokratiesprech der EU, wenn Enzensberger als Beispiel ausgerechnet einen redaktionellen Änderungsparagraphen aus dem Lissaboner Vertrag pickt (S. 13).
Reine Polemik auf Kioskniveau auch:
„Lieber folgt sie [die Europäische Kommission] in diesem Punkt dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Amerika, wo man an jeder Straßenecke eine Maschinenpistole erwerben, aber keine Zigarette rauchen darf.“
(S. 15)
Jetzt zu meiner Sprachkritik: Enzensbergers Hang zur veralteten Rechtschreibung nervt. Man könnte ihn für chronisch konservativ halten. Nicht nur erlaubt er keinem Lektor, „daß“ in „dass“ zu übersetzen, sondern er schreibt auch „Telephontarife“ (S. 8). „Telephon“ war ja wohl schon 1998 veraltet, als ich die neue Rechtschreibung lernte.
Die Formel „hingeschiedene DDR“ mag Enzensberger scheinbar so gern, dass er sie gleich zweimal auf zwei Seiten verwendet. Ist das eine übersehene Wortwiederholung? Oder ist es seine Marotte, die DDR immer mit diesem Attribut zu versehen? – Was ist das mit reiferen Herren und ihrer Selbstverliebtheit in ihre Floskeln? Mein hingeschiedener Großcousin hatte sich „ehemalige Bundesrepublik“ überlegt und schien es zu genießen, wenn er damit auf verwirrte Gesichter traf.
Kapitel III von «Sanftes Monster Brüssel» befriedigt, was wir alle hören wollen, wenn wir über die EU lästern: peinliche Vorschriften, Überregulierung und das Klischee vom Gurkenkrümmungskontrollzwang. Enzensberger relativiert: der Regulierungswahn sei nicht das wahre Problem, das er mit der Union habe (und erkennt noch dankend an, dass die EU sich in Kultur als einzigem Politikfeld immerhin nicht einmische.)
(Sehr schöne Teaser und Überleitungen von Kapitel zu Kapitel übrigens. Ich möchte fast sagen: smooth.)
Kapitel IIII* liefert noch ein bisschen Strukturkunde nach. Es gibt einen Einblick in die Organe und Benamsungen und Akronyme der EU-Institutionen und liefert damit ein gutes Stück Realsatire. Das Trommelfeuer aus Abkürzungen ist rhetorisches Kabarett-Dessert.
Kapitel V: Eine kleine Anthropologie der hohen Chargen im europäischen Beamtenapparat. Kapitel VI: Eine kleine Geschichtsstunde (Pioniere und Köpfe der EU unter besonderer Berücksichtigung von Jean Monnet.) Kapitel VII: Dem Befund, dass die EU im Kern eine wirtschaftliche Vereinigung ist und keine politische folgt eine Polemik gegen Brüche des Stabilitätspakts und schließlich gegen den Zynismus der Finanzmärkte; es fehlen nicht Kampfbegriffe wie Sozialisierung der Verluste bei Privatisierung der Gewinne.
Kapitel VIII enthält, worauf Enzensberger die ganze Zeit hinaus will. Er prangert das bösartige demokratische Defizit der supranationalen Staatengemeinschaft an. Wie sie auf Gewaltenteilung verzichtet! Sie sei postdemokratisch. Nur ihr so richtig böse zu sein fällt schwer, denn die EU ist ja nicht gemein und despotisch, sondern einfach bürokratisch. Sie gehorcht ohne bösen Willen nur einfach ihrer eigenen Krebsgeschwürlogik. (Ich paraphrasiere.) Enzensberger zitiert Robert Menasse, Hannah Arendt und – sich selbst («Der Untergang der Titanic. Eine Komödie»). Ich dachte eigentlich, Letzteres gehört sich nicht und wäre eitel.
Kapitel IX, der Epilog, tanzt in der Form aus der Reihe. Es handelt sich um ein Gespräch mit einem ungenannten Beamten der Europäischen Kommission. Er und der Autor reden so aufdringlich literarisch, dass es an Parodie grenzt. Hat das Gespräch wirklich stattgefunden oder ist es die Verwandlung des bisher Gesagten in einen Dramendialog?
«Sanftes Monster Brüssel» ist ein gut zu lesender, weil rhetorisch beispielhaft konstruierter Essay, der Bildungslücken schließt und abstrakte Sorgen bezüglich unseres europäischen Superstaates aus klassisch-linksintellektueller Perspektive diskutiert. Das Getriebe scheint hier und da durch, wo es aufdringlich polemisch wird. Aber schwer zu lesen ist es nirgends. Ich werde ein übermächtiges Gefühl nicht los, das sich über den ganzen Essay hinweg nur ausgewachsen hat: Hans Magnus Enzensberger möchte mit «Sanftes Monster Brüssel» von politisch engagierten Deutschlehrerinnen in Schullektüre verwandelt werden.
* Jetzt bin ich mal konservativ, was Rechtschreibung angeht.
Hans Magnus Enzensberger: Sanftes Monster Brüssel oder Die Entmündigung Europas. (Edition Suhrkamp Sonderdruck.) Berlin 2011. 68+ii Seiten. 7,00 €.
Auch noch:
- Aus Martins Schulheft: Friedrich Schiller contra «Bild»
- Martin contra Papst: Eine Auseinandersetzung mit J. Ratzingers Pamphlet über Social Networks
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