Du krisst den Tab nicht zu

Geißel der Menschheit: Tabbed Browsing. Registerkarten im Browser nicht schließen ist das neue Zeitungen nicht wegwerfen.
Freiburg • martinJost.eu
Ich bin die Heuschrecken. Ich ziehe von einem Internetbrowser zum nächsten und wenn ich ihn verheert habe, installiere ich mir wieder einen. Google Chrome mache ich schon lange nicht mehr auf. Unter der Last der geöffneten Tabs ächzt er und ich auch.
Firefox ist am Ende. Zum Laden braucht er die Dauer eines ganzen Frühstücks und dann reagiert er träge und gibt „keine Rückmeldung“. Oder er stürzt ab, wenn ich in einem weiteren Tab eine Facebook-Timeline von „nur Highlights“ auf „alle Posts ansehen“ umschalte. Jetzt habe ich mir Safari installiert. Aber der wird auch bald genug haben.
Menschen, die Zeitungen nicht wegschmeißen, hat es immer gegeben. Sie archivieren sie Kante auf Kante säuberlich gestapelt in ihrem Arbeitszimmer oder sie haben einfach neben jedem Bett, jedem Kanapee und jedem Schreibtisch einen papiernen Haufen mit Zeitungsseiten, die sie noch lesen wollen, wenn alles Gute zusammen kommt: Zeit, Muße, Interesse und Geduld.
Wenn man ich ist, können diese Haufen schon von einem zweiwöchigen kostenlosen Probeabo belästigende Ausmaße annehmen. Die meiste Zeit habe ich aber wohlweislich keine Tageszeitung abonniert. Ich lese ja das Internet beim Frühstück. Das heißt: Ich öffne mehr Links, als ich zu verfolgen schaffe und ich merke mir mehr Artikel vor, als ich tatsächlich am selben Tag lese. Ich entdecke auch viele Seiten, die mir mal nützlich sein könnten. Tipps für die Steuererklärung? Muss ich mir irgendwann zu Gemüte führen. Meine Browsertabs werden meine To-Do-Liste. Oder ich will Freunden Inhalte empfehlen, aber weil sie nicht auf Facebook existieren, hebe ich ihnen Tabs auf, bis ich dazu komme, ihnen später eine E-Mail zu schicken.
Strategien
Zwischen den Jahren ist Zeit zum Ausmisten. Ich habe es endlich geschafft, den übervollen SMS-Speicher des Handys leer zu kriegen. Da muss ich doch auch mal Tabs entschlacken. Wenigstens in einem Browser.
Folgende Strategien stehen zur Auswahl: 1.) Alle getabbten Seiten durchlesen oder abarbeiten oder Freunden empfehlen. – Ausgeschlossen, unzumutbar. 2.) Aus den Augen, aus dem Sinn: Ich habe einen Favoriten-Ordner namens „Lesen“ und einen namens „Leuten empfehlen“. – Dreimal dürft ihr raten, wie oft ich Seiten aus diesen Ordnern besuche. – Safari bietet eine Später-lesen-Liste. Und seit ich das Internet nutze, habe ich auch Seiten in Gänze heruntergeladen oder als PDFs lokal gespeichert. Der Ordner auf meiner Festplatte heißt „Drucken oder Lesen; Einsortieren“. Er enthält ungelesene Dokumente, die bis zu 11 Jahre alt sind.
- 3.) Eine schöne Kompromisslösung hat Firefox eingebaut: Tab Groups. In einer intuitiven Oberfläche kann man geöffnete Tabs zu bestimmten Themen sortieren – Arbeit, Hilfen, Comics – und weil man jeweils nur eine Gruppe Tabs öffnet, ist der Browser nicht überlastet. Wäre schön, aber wenn Firefox inkorrekt beendet wird oder doch mal abstürzt, sind alle Tabgroups weg. Genauso, wie ausgerechnet dann die Funktion „vorherige Sitzung wiederherstellen“ nicht mehr funktioniert. Diese ganz eigene Art von Schmerz, wenn man etwas verloren hat, an das man sich beim besten Willen nicht erinnern kann – man weiß nur: man hatte es noch nicht zu Ende gelesen – können wohl nur digitale Messies nachempfinden.
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