Wieder ein Amoklauf. Wieder eine Tragödie. Wieder eine Debatte über Waffengesetze und der Versuch, zu verstehen und zu verhindern, dass Menschen so ausrasten können. 2002 gab es in Erfurt den ersten Amoklauf „amerikanischen“ Ausmaßes in Deutschland. Damals ging ich selbst noch in der Nachbarstadt Weimar zur Schule. Thorsten Büker von der Thüringischen Landeszeitung (wo ich zu der Zeit als freier Mitarbeiter schrieb) interviewte mich nach dem Ereignis. Schon so früh – an dem Wochenende direkt nach dem blutigen Freitag – standen der strukturelle Druck, der von unserem Schulsystem ausging, und das Verhältnis zwischen Schülern und Lehrern im Mittelpunkt der Debatte.
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TLZ-Interview
Hier. Nicht
in Amerika.
Schultag nach dem Blutbad:
„Wenn ihr ein Problem habt, sprecht es bitte an“
Von Thorsten Büker
Weimar. (tlz) Montag: Für Mädchen und Jungen in Weimar beginnt die neue Schulwoche. Und doch ist seit der Schreckenstat an dem Erfurter Gutenberg-Gymnasium der Schulalltag in weite Ferne gerückt, denn diese Tat wird das Verhältnis von Schülern, Lehrern und Eltern auf Monate hinaus bestimmen. Die TLZ unterhielt sich gestern mit Martin Jost. Der 17-Jährige ist Schüler des Schillergymnasiums und will im nächsten Jahr sein Abitur machen.

Thüringische Landeszeitung (TLZ) vom 29. April 2002. »Hier. Nicht in Amerika« von Thorsten Büker*
Wie war der Start in die Woche unter dem Eindruck dieser Bluttat?
Um 8:05 Uhr war die Schweigeminute für die Schulen. Alle Klassen und die Lehrer haben sich auf dem Schulhof versammelt. Wir wurden informiert, dass heute in erster Linie über die Tat in Erfurt gesprochen werden soll. In den Klassen, mit den Lehrern.
War das Bedürfnis vorhanden, darüber zu reden? Oder fühltet ihr euch bereits wortleer?
Nein. Schon vorher wurde nur darüber geredet, das Bedürfnis war enorm. Ein Lehrer, der gleich in der ersten Stunden seinen normalen Unterricht abgespult hätte, hätte keine Aufmerksamkeit gehabt. Wir konnten am Wochenende die Informationen aufnehmen, konnten mit Eltern und Freunden reden. Aber mit denen, die es betrifft, nämlich mit Schülern und Lehrern, hatte man noch nicht reden können.
Was dominierte in den Gesprächen? Hilflosigkeit über eine Tat, die das Fassungsvermögen übersteigt?
Nein. Vielleicht eher das Gegenteil. Lehrer haben konkret gesagt, dass wir uns jetzt nicht lähmen lassen dürfen. Was mir auffiel, war, dass es zunächst nur um persönliche Empfindungen ging. Und später wurde es hinhaltlich: Wo liegen die Probleme? Was stört uns an der Schule? Wo kommt der Stress her? Was kann man anders machen?
Wie haben die Lehrer reagiert?
Sie waren alle sehr offen. Es kam, wie bei den Schülern auch, auf die Persönlichkeit an, wie ruhig und offen darüber geredet werden konnte. Wir haben Lehrer, die direkt betroffen waren, die aus Erfurt kommen, und Kollegen kannten, die am Gutenberg-Gymnasium unterrichteten. Es war unsere Entscheidung, jede neue Stunde zu klären, ob wir das Thema oder den Unterricht fortsetzen.
Wie ist das Verständnis füreinander: Weiß jeder Schüler alles über den anderen?
Man kennt seinen Kreis, seine Freunde. Und man geht davon aus, dass alle anderen, die man nicht kennt, auch in einer Clique drinstecken. Von dem Einzelnen weiß man häufig nicht, was er für ein Leben führt, was er denkt, was er für Probleme hat.
Aber was ist mit den Mitschülern: Müsste denen nicht zuerst auffallen, wenn ein Mädchen zum Beispiel Probleme hat?
Es fällt nicht immer auf. Man sitzt mit manchen Mitschülern nur eine oder zwei Stunden in der Woche zusammen und kannte diese vorher bereits kaum. Natürlich gibt es Kurse, in denen wir viel Zeit verbringen, Stammkurse, Leistungskurse zum Beispiel, da kennt man sich besser.
Was sind deiner Meinung nach die Gründe für die Tat?
Es gibt unendlich viele Ursachen, wie man hört.
Ist denn der Schulstress unvergleichlich hoch?
Wenn man alle Ansprüche der Schule erfüllen würde, wäre es tatsächlich stressig. Ich habe zum Beispiel jahrelang die Schule besucht, habe aber nicht das Gefühl, dass ich so viel mitnehmen werde. Ich habe immer am Abend vorher gepaukt, das Gelernte für die Arbeit wiedergegeben und danach wieder vergessen. Man lernt in der Schule nicht fürs Leben, wir lernen für die Noten …
… die allerdings entscheiden, ob du das Studium deiner Wahl oder den Beruf deiner Wahl ergreifen kannst.
Darum geht es doch nur. Das Abitur schaffen, wenn möglich ein gutes. Besprochen haben wir heute Vormittag zum Beispiel, dass man in Thüringen, wenn man durchs Abi rasselt, vollkommen ohne Schulabschluss dasteht.
Spürst du persönlich Stress in der Schule?
Nein, aber das liegt an meiner Person. Ich mache mir keinen Stress.
Kennst du andere, die unter dem Druck leiden?
Ja. Es gibt Mitschüler, mit denen man nichts unternehmen kann, weil sie Nachmittage lang nur lernen. Wenn man sich reinsteigern würde, hätte man Stress. Die Dinge, die mich interessieren, tue ich sowieso. Da verbinde ich das private Interesse an einem Buch mit der Schule.
Der 19-Jährige, der in Erfurt ein Blutbad hinterlassen hat, hat vor den Augen der Schule versagt: ER wurde vom Gymnasium verwiesen. Kannst du nachvollziehen, dass Menschen in dieser Situation ausrasten?
Ja, wobei mehr passiert sein muss. Vielleicht war es der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Vielleicht geht es um Anforderungen, die man nicht erfüllen kann, sein ganzes Leben lang nicht.
Wie ist das Verhältnis von Schülern und Eltern?
Viele Schüler erzählen daheim nicht so viel. Ich meine, es gibt die Schulwelt und die Elternwelt. Eltern fehlt aber auch teilweise das Verständnis.
Erzählst du deinen Eltern etwas über deinen Schulalltag?
Eigentlich mache ich Schule lieber für mich. Markante Sachen werden erzählt, gute Noten zum Beispiel. Und so denken viele.
Kennst du Lehrer auch privat? Oder reduziert sich der Umgang auf den Schulalltag?
Nein, es gibt private Kontakte. Es gibt Lehrer, mit denen man reden kann, die man auch privat trifft, mit denen man Tee trinkt, redet und so weiter. Lehrer, die aus ihrem Alltag erzählen, die menschlich wirken.
Politiker haben für die Tat eine schnelle Erklärung, denn sie rufen danach, Gewaltvideos, Gewalt-PC-Spiele und anderes zu verbieten. Teilst du diese Meinung?
So dominant Medien in unserem Leben sind, so klar ist, dass wir unterscheiden können zwischen Realität und Fiktion. Kinder können mit drei Jahren erkennen, dass die Gewalt in „Tom & Jerry“ unrealistisch ist. Niemand, der Kampfspiele zu Hause hat, ist aggressiv. Viele nutzen diese Spiele, um Frust abzureagieren.
Baust du auch so Frust ab?
Ich kann es nachvollziehen. Aber Computer sind nicht so mein Ding.
Der Täter hat gezielt auf Lehrer geschossen. Befürchtest du, dass das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern sich verschlechtert?
Nein. Ich glaube sogar, dass das Verhältnis von Schülern und Lehrern besser, offener wird. Viele haben heute ständig betont, „wenn ihr das kleinste Problem habt, sprecht es bitte an.“ Reden, Problemen nachgehen, Missverständnisse aus dem Weg räumen.
Wie hast du am Freitag von dem Amoklauf erfahren?
Ein Mitschüler sagte nach dem Unterricht, dass es in Erfurt Tote gegeben hat.
Was hast du gedacht?
Dass es ziemlich nah ist, dass es nicht Amerika ist. Irgendwie wühlten einen die Vorfälle in Amerika auch auf. Aber jetzt passiert es vor der eigenen Haustür. In Erfurt. Und jetzt weißt man, dass es überall passieren kann.
Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der TLZ Weimar.
* Bildunterzeile: „Ich mache mir keinen Stress.“ Martin Jost geht in die 11. Klasse am Schillergymnasium. Im nächsten Jahr wird er sein Abitur machen.
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