Die Lemminge sind tot

Magistersaurus Rex (o. Der letzte Mohigister o. Wie die Lemminge)

Wie es ist, Langzeitstudent zu sein und einen aussterbenden Abschluss bis zuletzt auszukosten

Wenn Martin im nächsten Jahr sein Studium beendet, wird es drei Päpste und ebenso viele Universitätsbibliotheken überdauert haben. Eigentlich wollte er nie Langzeitstudent werden. Jetzt im Alter sieht er das gelassener. Trotzdem Zeit, fertig zu werden. Auch wenn es gerade erst richtig schön wird.
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Lemminge haben den Ruf, als einzige Tierart Massenselbstmord zu begehen. Die Erklärung lautet, dass Lemminge bei ihren Wanderungen in neue Lebensräume hin und wieder ein Meer mit einem Fluss verwechseln. Als gute Schwimmer springen sie auch dann zuversichtlich von der Klippe, wenn sie das andere Ufer nicht sehen können. Ist das Gewässer aus Versehen unüberwindbar, ertrinken sie eben auf halbem Weg.

Gedruckte Texte von Martin Jost

„Kill your darlings“ – streiche deine Lieblinge, riet mir die Lektorin für den Artikel über mein Langzeitstudium. Der Text erschien – gründlich überarbeitet – am Sonnabend in der Badischen Zeitung (und online first auf fudder.de).

Das hier ist die erste Fassung, in der eine Schar Lemminge ihren Auftritt als putzige Metapher hat. Neben anderen Makeln des Textes (zu viel Hin und Her, zu wenig Entscheidungen) hielt das Bild der Lemminge nicht ganz stand.

Nun hänge ich aber sehr an den Nagern, die für die gedruckte Fassung komplett gestrichen wurden. Hiermit erhalten sie ein zweites Leben in der Kategorie „Verschnitt“ und werden damit zu untoten Lemmingen.


Die Erklärung ist Blödsinn. Sie stammt aus derselben Disney-Doku, für die die Filmemacher Lemminge ins Wasser schmissen, weil die Tiere normalerweise nicht von Klippen springen. Das Bild ist aber einfach zu passend für mein Studium. Ich habe mich eingeschrieben und dachte, ich würde eine Pfütze überqueren. Neun Jahre später schwimme ich immer noch.

Mein angestrebter Abschluss heißt Magister Artium. Mein Hauptfach heißt Alte Geschichte, meine Nebenfächer Geschichte der Medizin und Englische Philologie. Die Regelstudienzeit beträgt neun und die durchschnittliche Studienzeit zwölf Semester. Aber der Studiengang hat kein natürliches Ende. Dass ich mich jetzt auf einmal beeilen muss, liegt daran, dass mein Abschluss abgeschafft wurde.

Als ich anfing, waren wir viereinhalb Tausend – ein Fünftel aller Studenten an der Uni Freiburg. Im Sommersemester 2013 waren knapp 350 Magister eingeschrieben. Nach dem Sommer 2015 werden es null sein. Dann erlöschen alle Prüfungsansprüche, Abschluss oder nicht.

Sie kriechen aus ihren Löchern. In Sprechstunden und auf der Straße treffe ich Weggefährten, von denen ich dachte, sie seien schon ewig fertig. Auf einmal rotieren auch sie, schreiben hektisch Hausarbeiten für Seminare von vor vier Jahren und melden ihre Magisterarbeit an. Ich bin nicht der Einzige, der über das Studieren sein Studium vergessen hat.

Vielleicht ist das nicht ganz überraschend, da ich meistens absichtsvoll verdrängt habe, dass ich Student bin. Ich habe während dem Studium eine Ausbildung zum Rettungssanitäter beendet, als Krankenwagenfahrer gejobbt, zweimal für den Gemeinderat kandidiert, war Fraktionsmitarbeiter im Rathaus und Vorstand einer Wählervereinigung, habe als Erste-Hilfe-Ausbilder gearbeitet, bin im Roten Kreuz ehrenamtlicher Kriseninterventionshelfer geworden, habe mich hier und da noch in einem Verein engagiert, habe eine Stelle als Computerhiwi ausgefüllt und – langsam, aber sicher – immer mehr geschrieben. Zuletzt so viel, dass ich mich ohne rot zu werden Journalist nenne.

Ich wollte von Anfang an eine Anzahlung haben auf mein richtiges Leben, das sonst erst nach dem Studium begonnen hätte. Mir dämmert langsam, dass zu Ende studieren vor allem bedeutet: lernen, Entscheidungen zu treffen.

Entscheidungen sind eigentlich nicht mein Stil. Ich habe ein volles Regal nur mit Büchern, die ich gerade lese. Lieber das Seminar über Biografien der römischen Kaiserzeit oder das über Caesarenwahnsinn? Machen wir doch einfach beide. Geld-Job oder Wollte-ich-schon-immer-machen-Job? Da gibt es nur eine Antwort: Beide. Studieren? Auch. Aber mit einem Bein wollte ich schon am gegenüber liegenden Ufer der Pfütze stehen, die eigentlich ein Meer war.

Okay, ich möchte zurückrudern. Nicht alle Entscheidungen fallen mir schwer. Dass ich schreiben will, wenn ich groß bin, weiß ich seit der Grundschule. Wie ich mein Leben verbringen will oder mit wem, ist mir auch klar. Ich weiß, was ich mache, wenn ich drüben angekommen bin. Ich habe nur den Plan für das Rüberschwimmen vergessen.

Ich möchte keinesfalls das Sich-nicht-Entscheiden schlechtmachen. Die andere Seite ist nämlich eine bewusste Entscheidung für Vielseitigkeit. Die ist in meinem Studiengang genauso angelegt wie in meinem Beruf. Ich hätte auch Philosophie und Chemie studieren können. Das Magisterstudium lädt ein, seine Interessen in ganz unterschiedlichen Gebieten auszukosten. Journalismus belohnt Neugier und verlangt das schnelle Einarbeiten in immer neue Gebiete. Spezialisierung ist Stillstand.

Magister heißt übersetzt „Lehrmeister“, Artium „der Wissenschaften“ oder „der Künste“. Meister der Künste – kein schlechter Titel für einen ersten Berufsabschluss. Ich habe die Ausbildung immer auch als duale aufgefasst und bin zwischen Studium und Arbeit gependelt. Im besten Fall haben beide Projekte profitiert.

Jetzt ist es Zeit für die Entscheidung, auf dem schnellsten Weg trockene Füße zu bekommen. Das Leben nach dem Studium wartet am Ufer auf mich. Dieser kleine Lemming hat noch genug Puste.

In letzter Zeit genieße ich mein Studium sehr. Manche Dinge brauchen eben Zeit. Oder vielleicht bin ich langsam. Ich habe zum Beispiel erst vor zwei Jahren meinen Lieblingsautor kennen gelernt. Davor hätte es nur zu so einem Verlegenheits-Prüfungsthema gereicht wie „Shakespeares Tragödien“ oder „Amerikanisches Drama des 20. Jahrhunderts“. Jetzt kann ich Creative Nonfiction von David Foster Wallace und Kollegen lesen. Meine Prüfung wird geil.

Und wie geht es meinen Mitlemmingen? Vergraben sich in der Bibliothek, was man so hört. Schreiben Hausarbeiten, laufen Scheinen hinterher, recherchieren für ihre Magisterarbeit. Ein paar von uns erwischt vielleicht das böse Aufschiebemonster oder ein Fristen-Unwetter. Ein paar haben auch aufgegeben. Aber wer das andere Ufer nicht erreicht, hat deshalb nicht verloren. Beim Magister war immer der Weg das Ziel.


Martin anfeuern? Der Autor dokumentiert das Ende seines Studiums unter http://www.fertig-werden.com.


Auch noch:

Ein Kommentar

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Eine Antwort zu “Die Lemminge sind tot

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