Vladimir ist verliebt in Melissa. Er traut sich nicht, Melissa anzusprechen und zu fragen, ob sie seine Freundin sein will. Als wäre das nicht schlimm genug, ist in seiner Heimat Krieg, sein Onkel wird erschossen, seine Großeltern entführt und Vladimir lebt in einem Ungeziefer-geplagten schwimmenden Containerwohnheim in der dänischen Fremde.
Es ist 1992 und Vladimir ist mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder auf der Flucht. Zusammen mit hunderten anderen Flüchtlingen aus Bosnien-Herzegowina hoffen sie in Kopenhagen auf Asyl.
«Flotel Europa»★★★★✩ Buch: Vladimir Tomic «Flotel Europa» läuft auf dem DOK.fest München noch am 15. Mai um 17 Uhr im Gasteig. |
Vladimir Tomic erzählt seine Geschichte aus dem Off. Als ganz junger Teenager kommt er nach Kopenhagen. Hunderte Flüchtlinge aus Sarajevo leben hier in einer Burg aus Wohncontainern, die auf einem Floß im Hafen steht. Das Leben im «Flotel Europa» ist bunt und auf den ersten Blick familiär. Vladimir und sein großer Bruder langweilen sich manchmal, aber abgesehen davon sind sie in Abenteuerlaune.
Vladimir findet ältere Freunde, denen auch langweilig ist, die aber wissen, wie man feiert und mit denen er die Stadt unsicher machen und auf ein Konzert gehen kann. Unterdessen ist auf dem Flotel immer etwas los: Leute machen Musik, Leute kochen zusammen, Leute sitzen im Fernsehraum und suchen in Nachrichten aus dem Krieg nach bekannten Gesichtern von Familie und Freunden.
Ein Hörbuch mit authentischen Bildern
Das Besondere am Film «Flotel Europa» ist das Bildmaterial. Abgesehen von kurzen Sequenzen aus einem bosnischen Heldenfilm über Handgranatenkinder stammen alle Bilder von den VHS- und Hi8-Videokassetten, die die Bewohner des Flüchtlingsfloßes aufgenommen haben. Einige von ihnen hatten gebrauchte Camcorder angeschafft um ihren Alltag festzuhalten oder, wie Vladimirs Mutter, Videobriefe nach Hause zu schicken.
VHS hat eine denkbar schlechte Auflösung für die Kinoleinwand, die Farben laufen ineinander und das Magnetband ist nicht besonders alterungsbeständig. In der Eröffnungssequenz, in der das Flotel Europa unter einer Klappbrücke hindurch gezogen und am Kai festgemacht wird, sind die analogen Bildstörungen noch so schlimm, dass eine Frau am Montag im Filmmuseum ruft: „Wird das noch besser oder kann mal jemand bescheid sagen?“, und die anderen Zuschauer: „Das gehört so!“
Viele ehemalige Bewohner des Flüchtlingsfloßes haben Tomic ihre Videoarchive zur Verfügung gestellt. So hat er nicht nur Bilder von den handelnden Personen seiner Geschichte, sondern zum Teil auch Material von den wesentlichen Ereignissen. Hinzu kommt reichhaltiges Platzhalter- oder Symbolbild-Material. Wenn Tomic von den Nachrichten aus der umkämpften Heimat erzählt, zeigt er Aufnahmen vom Fernsehraum auf dem Schiff, in dem die Nachrichten laufen. Wenn er von den alten Männern erzählt, die Tag und Nacht im Fernsehraum verbringen und mit den Sesseln und Sofas verwachsen scheinen, sehen wir genau, was er meint.
Von dem Vorfall, als Tomic’ Mutter bei einer Versammlung im Fernsehraum beschimpft wird, gibt es keine Bilder. Aber verbunden mit seiner Erzählung bekommen die Platzhalter-Aufnahmen von den festgefahrenen Gesichtern im Fernsehraum etwas Bedrohliches. Manchmal bricht nämlich Böses in Vladimirs Teenager-Dasein und in seine Gedanken an Melissa ein: Rassistische Konflikte unter den Geflüchteten, Nachrichten vom Tod des Onkels und von der Geiselnahme der Großeltern in Sarajevo oder eine weinende Mutter.
Zusammengehalten oder verbunden wird alles nur durch die Geschichte, die Tomic im Voice-Over erzählt – mit Beobachtungsgabe und Souveränität. Der Text aus dem Off ist so gut geschrieben, dass er auch als Hörbuch funktionieren dürfte. Aber die wertvollen Bilder in all ihrer Fahlheit, Verwaschenheit und mit ihrem Knistern versetzen uns mitten in seine Geschichte.
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