1722. Der Autor von «Robinson Crusoe», Daniel Defoe, schildert in «A Journal of the Plague Year» das Pestjahr 1665 in London. Liest man das Buch ohne Vorwissen an, kann man es leicht für Nonfiction halten, für die Memoiren des Schriftstellers Defoe. Erst nach etwa zehn Seiten stellt der Ich-Erzähler sich beiläufig als Sattler und Kaufmann vor. Das „Tagebuch“ ist also Fikition. Die Gründlichkeit, mit der Defoe recherchiert und möglichst wahrhaftig über die Pest-Epidemie in London geschrieben hat, macht es aber verzeihbar, wenn man es für ein Sachbuch hält.
Defoe war 1665 fünf Jahre alt. Wikipedia verrät uns, dass er möglicherweise das Tagebuch seines Onkels als Vorlage für «Journal of the Plague Year» benutzt hat.
Der Erzähler, der am Ende mit den Initialen H. F. unterschreibt, beschließt bei Ausbruch der Pest in der Stadt zu bleiben. Er will sich um sein Haus und Geschäft sowie um das Anwesen seines Bruders kümmern, der wie viele andere aus London geflohen ist.
Ein lakonischer Erzähler
H. F. übersteht die Pest, ohne sich anzustecken. In seiner lakonischen Grundeinstellung ist er sich aber bewusst, dass das reines Glück war. Er dokumentiert, wie das Massensterben das tägliche Leben verändert; welche Maßnahmen die Beamten, Ärzte, Quacksalber und Unternehmer ergreifen, um die Seuche einzudämmen; wie die Epidemie sich auf die gesellschaftlichen Klassen ganz unterschiedlich auswirkt; und er streut immer wieder Statistiken darüber ein, wie sich die Sterbezahlen mit der Zeit entwickeln.
In vielen Anekdoten und Abschweifungen schildert er die Gegenwehr gegen die Krankheit, ihre Verleugnung sowie kuriose Reaktionen. Solche Begebenheiten will H. F. dann etweder mit eigenen Augen gesehen haben oder er hat sie sich erzählen lassen. Wenn er etwas als Hörensagen schildert, vermittelt er grundsätzlich auch einen Eindruck von der Quelle und bewertet die Glaubwürdigkeit der Information. Systematischer und genauer könnte man es von einem Chronisten nicht erwarten.
Immer dasselbe?
Liest man «A Journal of the Plague Year» im Jahr 2020 oder ’21, (übrigens genau wie die Rahmenhandlung von Boccaccios «Dekameron»), ist man ein ums andere Mal baff über die Parallelen zwischen der Pest vor einigen hundert Jahren und der Pandemie von heute:
- Wie die Privilegierten viel weniger von den sozialen Folgen und vom Sterben durch die Krankheit betroffen sind als die Armen.
- Wie sich sowohl Egoismus als auch Solidarität zeigen.
- Wie schnell eine Ausnahmesituation zur neuen Normalität wird.
- Wie sehr Scharlatane und Fake News Konjunktur haben.
- Wie Egoisten oder Realitätsverleugner sich um die allgemeinen neuen Regeln drücken, die die Ausbreitung der Krankheit eindämmen sollen.
- Und wie schnell Gerüchte sich nicht nur verbreiten, sondern auch zu Panik-Blasen aufblähen können.
Der Erzähler kann sogar anerkennen, welche Rolle Massenmedien für die schnelle Verbreitung von Informationen (oder Gerüchten) spielen und sagt im Rückblick: Nur gut, dass es damals noch keine gedruckten Zeitungen gab:
“We had no such thing as printed newspapers in those days to spread romours and reports of things, and to improve them by the invention of men, as I have lived to see practised since.”
Gerüchte reisten damals nicht schneller als ein Kaufmann. Andererseits gab es auch noch keine Podcasts, die einen über neueste wissenschaftliche Erkenntnisse auf dem Laufenden gehalten hätten.
Daniel Defoe:
A Journal of the Plague Year/Die Pest zu London
*Die Überschrift für diesen Beitrag habe ich von Peter Wittkamp ausgeliehen.
Diese Rezension habe ich zuerst auf goodreads.com gepostet.