Fahr mit der Eisenbahn, da kannst du was lernen

„Sehr geehrte Fahrgäste, wir haben derzeit eine Verspätung von circa 17 Minuten. Der Grund dafür war die Verspätung des hinteren Zugteils.“

Ich bin Insasse des hinteren Zugteils und ich bin mit dieser Darstellung nicht einverstanden.

Ich halte die Ansage für eine polemische Schuldzuweisung, die eine Begründung bloß vortäuscht. Warum war der hintere Zugteil denn verspätet? Erfahren wir das mal? Vielleicht hatte er ja seine Gründe? Nein, ich war nicht dabei, ich bin erst in Rosenheim zugestiegen, ich meine ja nur: Der hintere Zugteil war heute Morgen schon in Salzburg. Das ist eine harte Strecke. Keiner von uns könnte auch nur einen Gleisabschnitt in den Schuhen vom hinteren Zugteil gehen. Wir wissen nicht, was er durchgemacht hat. Aus Jux und Tollerei war er gewiss nicht verspätet.

Gleich, nachdem die Frau sich neben mich gesetzt hat, packt sie ihr Nadelspiel aus und arbeitet konzentriert an der Strickarbeit. Ich sehe es nur im Augenwinkel, aber ihre Finger sind ununterbrochen am Knipseln. Krass, denke ich, wie man während der wackeligen Fahrt so was Diffiziles wie Stricken hinbekommen kann.

Als ich zehn Minuten später gucke, was sie da eigentlich strickt, kommt raus: Nichts. Sie ist bloß dabei, ihre Kopfhörer zu entfitzen.

Vollbremsung kurz vor Aßling. Durchsage: „Wir bitten um Entschuldigung für den kleinen Zwischenstopp. Leider hatte unser Zug eine Meinungsverschiedenheit mit unserem Lokführer. Unser Zug meinte, wir wären zu schnell, was aber nicht der Wahrheit entsprach.“ (Als würde das nicht auch jeder Autofahrer sagen, wenn er geblitzt wurde.) „Wir bitten um Entschuldigung für den kleinen Aussetzer.“ (Wessen Aussetzer jetzt?)

Ein Kind in Matschhose, circa drei bis vier Jahre alt, stapft durch den Zug. Besonders schüchtern ist er nicht, er quatscht fleißig Leute an.

Halt in Großkarolinenfeld. Der Junge hängt im Türbereich herum und guckt Leuten beim Ein- und Aussteigen zu. Seine Erwachsenen scheinen sich ziemlich sicher zu sein, dass er nicht vor lauter Entdeckerdrang aussteigt oder sie denken sich: Wir sehen es ja dann durchs Fenster, wenn er in Großkaro geblieben ist.

Jetzt kommt er wieder bei mir vorbei. Ich checke nicht ganz, was er von mir will, weil ich Kopfhörer aufhabe. Ich verstehe: „Kannst du mir was schenken?“ Na ganz sicher nicht.

Jetzt spielt er an meinem Rucksack herum. Bei der Gelegenheit sabbelt er die Frau voll, die hinter mir sitzt. Sie lachen, irgendwann geht er.

Jetzt kommt er wieder, diesmal von seiner Mutter durch den Zug geschoben. Sie hat ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Von wem hat er den Bonbon bekommen, den er plötzlich in der Hand hielt? Die Frau hinter mir gesteht. Das gibt einen Anschiss von der Mutter des Kleinen. Die Frau bekommt zu hören, dass sie kleinen Kindern nicht einfach Bonbons schenken soll. „Sie können ja gar nicht wissen, ob er das schon essen darf und kann.“

„Dann sollte er vielleicht auch nicht allein durch den Zug laufen und nach Bonbons fragen!“

„Ja vielen Dank für den Tipp.“

Ich möchte lösen: Ich glaube, das Thema der heutigen Zugfahrt heißt „Verantwortung“

 


Auch das noch:

Wieder nix zu lesen

Sind dir schon wieder die guten Sachen zum Lesen, Anhören oder Glotzen ausgegangen? Verzage nicht, Martin hat ein paar Tipps für die neue Woche für dich:

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„Sie wissen doch genau, warum wir so ein Theater machen“

Regionalbahn aus Staufen nach Freiburg. Zwei Bundespolizisten laufen durch den Wagen und suchen sich jemanden zum Kontrollieren aus. Sie bitten einen Mann, der ganz unscheinbar aussieht, um seinen Ausweis.

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Übern Wintern

Das «Infinite Jest»-Logbuch (3) Mit Exkursen zu «Wonder Boys», Postmoderne und «Frühlings Erwachen» 0027<|>1052. Kapitel 2. Nacht dunkel; plötzliche Kühle; Schwache Böen und Regenschauer; übrige Weinseligkeit. Ein Drogensüchtiger richtet sich zu Hause für Tage langen Rausch ein. Er hat an alles gedacht (das macht die Erfahrung). Alles, was noch fehlt, ist die Dealerin.

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