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Bernhard Paul ist der Zirkus seiner Kindheit nie aus dem Kopf gegangen. Also hat er seinen eigenen gegründet. Portrtät des Direktors von Zirkus „Roncalli“ in seinen eigenen Worten.

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Hab’ da ma’ ne Fraache

Gedrucktes

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Jeder kennt sie, doch plötzlich ist sie weg: Weimar hat ein Original verloren

Von Martin Jost

Thüringische Landeszeitung vom 30. Dezember 2000

Thüringische Landeszeitung vom 30. Dezember 2000

Weimar. (tlz) Ich lebe in einer Stadt, der eigentlich etwas Entscheidendes fehlt.

In Ordnung, das ist nichts wirklich Neues und damit haben alle hier sich längst abgefunden. Und man ist auch nicht undankbar hierzustadte, dass den 60 000 Mainstream-hungrigen Einwohnern nun endlich auch ein Kino gebaut wurde.

Und doch fehlt etwas!

Die Stadt hat ihr Original verloren. Immer gab es prägende Inventarstücke von Unterhaltungswert im Stadtbild: Hüppmarie, Walter der Trinker, – und das Original schlechthin, „die Olle“, wie sie von manchen genannt wurde oder, getreu ihrem eigenen Werbespruch, „Ich hab’ da ma’ ne Fraache…“. An dieser Stelle soll sie Eva getauft werden, denn zu einer Frau solch biblischen Alters gehört einfach ein biblischer Name.

Sie sah aus wie 80 oder mehr. Mindestens ein Krieg und das Leben auf dem Land um die Stadt hatten ihrem Gesicht schon enorm zugesetzt, aus dem ein rosenstrauchartiger Bart wuchs. So lief sie durch die Fußgängerzone, sprach Leute an und offerierte auf charmanteste Art und Weise Äppel, Börnen, Feilschen, Dulben, Blümschen, Osterkloggen, Tschwetschen und sonstiges Leckeres. Jeweils eine ihrer kleinen Hände voll mit dem Angebot des Tages für fünf Mark. Sie zeichnete sich aus durch einen enthusiastischen Geschäftssinn, bot sogar Straßencafé-Insassen ihre Ware an – bis sie rausflog.

Touristen waren bald die einzigen, die sie noch nicht kannten und die deshalb keinen großen Bogen um die kleine Frau schlugen. Die guten Menschen hatten Mitleid mit ihr, der Frau in dem verwaschenen grünen Steppmantel (bei Temperaturen von -25 Grad Celsius bis 29,9 Grad Celsius) oder dem rosa Schultütenkleid (ab 30 Grad Celsius) und gaben ihr ihre fünf Mark oder mehr, verweigerten aber die Ware. Das Obst lag in manchen Fällen (wer weiß wie lange) in der dunklen, schmutzigen Tasche mit den Rädern dran. Sie bot es mit den gleichen Händen an, in die sie sich an erkälteten Tagen zuvor noch geschnäuzt hatte. So faulig wie die Mirabellen, so trocken waren auch die Blütenpflanzen. Kein Wunder, denn bevor nicht alles ausverkauft war, dachte sie auch nicht daran, die fahrbare Tasche zu leeren.

„Du blöde Sau!“, „Du Fresssack!“ oder einfach „Du Arsch!“, sagte sie dann zu den Schmähern. Auch zu kleinen Kindern, die ihre Füßchen wohlgezielt und mit Schwung auf Evas Hinterteil platzierten. Das war dann ein Ereignis.

Ungefähr dann, wenn der Mittag angebrochen war, setzte sie sich auf eine Bank und vergaß sich im Verzehr ihrer Käsebemme. Das Ausruhen und Energietanken tat ihr eindeutig gut. Leider war sie so auch in einem recht verwundbaren Zustand und wenn sie dann von Kindern erspäht wurde, konnte sie zumindest nicht zurücktreten. War dann aber der letzte Krümel Brot geschluckt, ging es zurück auf Verkaufspatrouille.

Das standhafte Weib verbrachte mindestens acht Stunden täglich im Stadtzentrum auf den Beinen. Jene Power verhalf ihr zum Status eines kleinen Mythos. Man fragte sich, wo sie her kam. Bürgerinitiativen folgten ihr abends über die Landstraße, um genau das herauszufinden.

Niemand hätte sie als interessant bezeichnet wie vielleicht John Lennon, Schiller oder Napoleon. Trotzdem hätte ich lieber fünf Minuten lang in ihren Kopf geschaut als in den eines anderen.

Nun ist sie weg. Seit dem Winter kommt sie nicht mehr. Vielleicht hat die Stadtreinigung ihr Innenstadtverbot auferlegt? Vielleicht ist sie einfach bloß irgendwo einsam gestorben? –

Wie auch immer, meine Stadt braucht ein neues Original.

• Was aus »Eva« wurde.

•• Die verschiedenen Inkarnationen dieses Textes: »Original gesucht« und »Die Olle«.

••• Wie kam es zu diesem Text?

Mein Text über ein Weimarer Original wurde 2000 zuerst in der Berliner Zeitung abgedruckt. Der zuständige Redakteur Martin Z. Schröder trieb mich zu starkem Redigieren an, so dass diese Fassung des Textes mit Sicherheit die kompakteste und prägnanteste ist – gleichzeitig ist es aber nicht meine Lieblingsfassung. Die Längen, die er entbehrt, enthalten viele Eigenheiten meines Schreibstils und ich mag daher zum Beispiel die Fassung aus dem ▲journal d’ami lieber – ohne, dass die perfekter wäre.

Im Sommer 2000 hatte ich meinen ziemlich erfolgreichen Einstieg in den Nebenjob Zeitung schreiben. Die Berliner Zeitung bat mich nach einem Auftritt auf dem Kongress der Redenschreiber Deutscher Sprache um einen Beitrag für ihre Glosse Unterm Strich im Feuilleton. Ich bereitete einen Text vor, der auch in der BerlZ gedruckt wurde, ich brachte ihn aber auch in die Arbeit der Redaktion des journal d’ami mit ein. Eine Kollegin aus der Redaktion im mon ami durfte ihn natürlich gern in der Schülerzeitung »frequenz« des Goethegymnasiums drucken, woraufhin mir meine Debattierclublehrerin Vorhaltungen machte: Wie ich nur der Schülerzeitung vom Goethe einen Text anbieten könnte, aber meinem eigenen Schillergymnasium nicht. Natürlich habe ich das Versäumnis umgehend nachgeholt und der Text erschien als Viertes in »Schillers Erbe«. Als Redaktionsmitglied vom journal d’ami nahm ich an einem Zeitungsschreiben-Workshop der Thüringischen Landeszeitung (TLZ) teil und der Redaktionsleiter kannte meinen Text »Original gesucht« aus »Schillers Erbe«. Natürlich durfte er ihn gern auch abdrucken und ich nahm den Auftrag an, Nachforschungen darüber anzustellen, was aus Eva/Sophie eigentlich geworden war. Zwischen meinem Impuls in den Sommerferien, irgendwas mit Schreiben zu machen und den Hörer abzunehmen und mich beim journal d’ami vorzustellen und meinem Fuß in der Tür bei einer Tageszeitung, in der ich ab sofort wochenends als freier Reporter tätig wurde, war ein halbes Jahr vergangen.

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Die Olle

»Gedrucktes« von Martin Jost

»Gedrucktes« von Martin Jost

Weimar

Die Olle

von Martin Jost

BerlZ

Berliner Zeitung vom 20. Oktober 2000 (Nr. 245).

Man ist nicht undankbar hier zu Stadte, dass den 60000 Einwohnern endlich ein Kino gebaut wurde. Und doch fehlt etwas.

Weimar wurde stets durch unterhaltsame Inventarstücke im Stadtbild belebt: Hüppmarie, Walter der Trinker – und das Original schlechthin. Sie wurde »die Olle« genannt oder »Ich hab da ma’ ne Faache…«, getreu ihrem eigenen Werbespruch, an den sich immer ein individuelles Verkaufsgespräch anschloss. Sie konnte nicht jünger als achtzig gewesen sein. Ein rosenstrauchartiger Bart ragte aus ihrem Gesicht. Sie lief durch die Fußgängerzone und offerierte „Äppel, Börnen, Feilschen, Dulben, Blümschen, Osterkloggen, Tschwetschen“. Die Olle zeichnete sich aus durch einen enthusiastischen Geschäftssinn und bot auch in Cafés ihre Ware an. Bis sie rausflog.

Touristen waren fast die Einzigen, die keinen großen Bogen um die kleine Händlerin schlugen. Nur ein paar Leute hatten Mitleid mit der Frau in dem verwaschenen Steppmantel (bei Temperaturen von minus 25°C bis plus 29,9°C) oder dem rosa Schultütenkleid (ab 30°C) und gaben ihr ihre fünf Mark oder mehr, verweigerten aber die Mitführung der Ware. Das Obst lag in einer dunklen, schmutzigen zweirädrigen Tasche, und so holte es mit Händen heraus, in die sie sich zuvor geschnäuzt hatte. So faulig die süßen Mirabellen, so trocken waren die Blütenpflanzen.

„Du blöde Sau!“, „Du altes Schwein!“, „Fresssack!“ oder einfach „Du Arschloch!“ sagte sie zu den Schmähern ihrer Früchte und steckte die fünf Mark ein. Auch kleine Kinder, die ihre Füßchen wohlgezielt und mit Schwung auf der Straßenhändlerin Hinterteil platzierten, wurden so beschimpft. Das war dann ein Ereignis, vor allem für die Fremden. Mittags setzte sie sich auf eine Bank und verzehrte ihre Käsebemme. Wenn sie in diesem verwundbaren Zustand von gemeinen Kindern erspäht und belästigt wurde, konnte sie nicht zurücktreten.

Mindestens acht Stunden täglich war sie im Stadtzentrum auf den Beinen. Das machte sie zum Mythos. Man fragte sich, woher sie kam. Bürger folgten ihr abends über die Landstraße zu ihrem Dorf, um es herauszufinden.

Ihr Mann sei gestorben und nun bringe sie sich mit dem Ertrag ihres Gartens durch, versuchten die einen ihre Beweggründe zu erklären. Ihr Sohn schlage sie, wenn sie nicht jeden Abend Obst in Geld umgewandelt habe, sagten andere. Sie mache das für verschiedene Bauern und erhalte für das abgelieferte Geld eine Tasse Kaffee, sagte sie selbst einmal, und einer glaubte ihr.

Nun ist sie weg. Vielleicht, weil die Verwaltung ihr Innenstadtverbot auferlegt hat, vielleicht, weil sie gestorben ist. So unlieb einem die Vorstellung auch ist, aus heiterem Himmel wieder von ihr angesprochen zu werden – sie fehlt.

Dieser Text in der Fassung des journal d’ami.

Berlin. (berlz/mjeu/majo) Mein Text über ein Weimarer Original wurde 2000 zuerst in der Berliner Zeitung abgedruckt. Der zuständige Redakteur Martin Z. Schröder trieb mich zu starkem Redigieren an, so dass diese Fassung des Textes mit Sicherheit die kompakteste und prägnanteste ist – gleichzeitig ist es aber nicht meine Lieblingsfassung. Die Längen, die er entbehrt, enthalten viele Eigenheiten meines Schreibstils und ich mag daher zum Beispiel die Fassung aus dem ▲journal d’ami lieber – ohne, dass die perfekter wäre.

In der nächsten Woche in Gedrucktes: Eine weitere, leicht veränderte Fassung dieses Textes, die in der Thüringischen Landeszeitung (TLZ) erschien.

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