Zehn Jahre in der Matrix

Meine große Schwester ist schon erwachsen und alles. Weil sie in einer anderen Zeitzone wohnt, rief sie mich letztens in der Nacht an und weil es mitten in der Nacht war, kaufte ich gerade im Internet ein. Alte Musik, die zum Hintergrundrauschen meiner Jugend gehörte, Haddaway und Scatman John und so. „Früher gab es einfach bessere Songs als was heutzutage so im Radio läuft“, sagte ich und meine Schwester sagte: „Daran merkst du, dass du alt wirst.“

Ich finde, das hat überhaupt nichts damit zu tun, wie lange ich mich noch als Mitte zwanzig bezeichnen darf oder schon Ende. Die Musik ist zur Zeit einfach objektiv Schrott. Allein dass jedes zweite Lied in schlechten deutschen Reimen säuselt. Früher hätten wir das „Schlager“ genannt und alle hätten sich geschüttelt.

Woran ich wirklich merke, dass ich ganz schön alt bin: Es ist jetzt zehn Jahre her, dass ich Fight Club und The Matrix im Kino gesehen habe. Ich wiederhole: Zehn Jahre.

1999 waren The Matrix und Fight Club die beiden guten Filme. The Matrix lief ab dem Frühjahr und hielt sich lange in den Kino-Charts. Wie viele saß ich baff und mit offenem Mund vor dem Abspann. Und noch eine Weile danach war ich überzeugt, dass die Welt um mich herum nur eine Computerillusion sei, deren programmierte Gesetze – Schwerkraft oder Lichtgeschwindigkeit – man wie „Neo“ (Keanu Reeves) im Film mit genügend Willenskraft brechen könnte. Fast gebrochen habe ich mir auf dem Heimweg vom Kino nur den Knöchel.

The Matrix war der erste Film, nach dem ich mich als knospender Filmfreak gefragt habe, ob ihn in zehn Jahren noch irgendjemand wichtig finden würde. Egal, ob man filmtechnisch, populärphilosophisch oder literarisch an die Frage heran geht, besteht er den Test mit seiner Mischung aus Innovation (der „Bullet-Time“-Effekt ist inzwischen ein Klischee in Werbespots) und bewährten Rezepten (das Drehbuch ist ein Lehrbuchbeispiel für Märchen und Heldenreise).

Fight Club, der im Winter 1999 lief, hat so viele Themen mit The Matrix gemeinsam, dass man schon einen allgemeinen Zeitgeist der Angst und Melancholie unterstellen will. Sowohl Edward Nortons namenloser Charakter in Fight Club als auch Thomas „Neo“ Anderson in Matrix führen ein tristes, in fahlen Farben gefilmtes Leben im Hamsterrad. Der Held aus Fight Club wundert sich, dass er inzwischen auf den IKEA-Katalog spitzer ist als auf Pornoheftchen. Thomas Anderson flüchtet nachts ins Internet, wo er ein aufregendes virtuelles Leben als Hacker führt. Beide treffen einen Mentor, der ihnen eine Perspektive gibt. Neo ist erleichtert, als er vom väterlichen Morpheus (Laurence Fishburn) erfährt, dass die blasse und einsame Welt nur eine virtuelle Realität ist, in der uns Maschinen versklaven und aus der sich ausbrechen lässt: „Du hast es dein ganzes Leben gefühlt. Dass etwas nicht stimmt mit der Welt. (…) Du weißt nicht, was es ist, aber es ist da. Wie ein Splitter in deinem Kopf.“

Norton trifft derweil Tyler Durden (Brad Pitt). Der ist das respektlose Arschloch, das er selbst gerne wäre. Der Held hätte sich seinen Mephisto nicht besser ausdenken können: Er befreit ihn mit Hausmacherdynamit von seinen weltlichen Fesseln („Erst wenn du alles verloren hast, bist du frei, alles zu tun“) und sie verprügeln sich einmal die Woche („Wie viel kannst du über dich wissen, wenn du nie in einem Kampf warst? Du willst doch nicht ohne Narben sterben“). Tyler Durden scheint – wohlgemerkt noch vor der vorletzten Wirtschaftskrise – die Generation Praktikum und die prekäre Arbeitswelt von heute vorwegzunehmen, wenn er sagt: „Eine ganze Generation jobbt an der Tanke und kellnert. Sklaven in Hemdkragen. (…) Wir machen Arbeit, die wir hassen, damit wir uns Schrott kaufen können, den wir nicht brauchen. Wir sind die Sandwichkinder der Geschichte. Kein großer Krieg, keine große Depression. (…) Unsere große Depression ist unser Leben.“

Jetzt hatten wir ja doch unsere große Depression. Und ob wir im Krieg sind, streiten wir noch, aber die Chancen stehen gut. Haben wir deshalb mehr gelebt? Ich kann immerhin Kindern erzählen, wie ich damals The Matrix und Fight Club im Kino erlebt habe. Jünger als erlaubt, weil meine große Schwester dabei war. Die Kinder fragen dann: „Und das ist ein Klassiker, ja? Aber nicht in Schwarz-Weiß, oder?“ Ich weiß gar nicht, warum sie heute überhaupt noch Filme machen. So gut wie in den Neunzigern werden die sowieso nicht wieder.

So alt war ich noch nie.

3 Kommentare

Eingeordnet unter 06 Martin Josts Kulturkonsum, Martin kuckt, Ungedrucktes

3 Antworten zu “Zehn Jahre in der Matrix

  1. »The Matrix Revisited« von «xkcd»:
    http://xkcd.com/566/

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  2. Pingback: Zur Lage der Matrix | martinJost.eu

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