Die Olle

»Gedrucktes« von Martin Jost

»Gedrucktes« von Martin Jost

Weimar

Die Olle

von Martin Jost

BerlZ

Berliner Zeitung vom 20. Oktober 2000 (Nr. 245).

Man ist nicht undankbar hier zu Stadte, dass den 60000 Einwohnern endlich ein Kino gebaut wurde. Und doch fehlt etwas.

Weimar wurde stets durch unterhaltsame Inventarstücke im Stadtbild belebt: Hüppmarie, Walter der Trinker – und das Original schlechthin. Sie wurde »die Olle« genannt oder »Ich hab da ma’ ne Faache…«, getreu ihrem eigenen Werbespruch, an den sich immer ein individuelles Verkaufsgespräch anschloss. Sie konnte nicht jünger als achtzig gewesen sein. Ein rosenstrauchartiger Bart ragte aus ihrem Gesicht. Sie lief durch die Fußgängerzone und offerierte „Äppel, Börnen, Feilschen, Dulben, Blümschen, Osterkloggen, Tschwetschen“. Die Olle zeichnete sich aus durch einen enthusiastischen Geschäftssinn und bot auch in Cafés ihre Ware an. Bis sie rausflog.

Touristen waren fast die Einzigen, die keinen großen Bogen um die kleine Händlerin schlugen. Nur ein paar Leute hatten Mitleid mit der Frau in dem verwaschenen Steppmantel (bei Temperaturen von minus 25°C bis plus 29,9°C) oder dem rosa Schultütenkleid (ab 30°C) und gaben ihr ihre fünf Mark oder mehr, verweigerten aber die Mitführung der Ware. Das Obst lag in einer dunklen, schmutzigen zweirädrigen Tasche, und so holte es mit Händen heraus, in die sie sich zuvor geschnäuzt hatte. So faulig die süßen Mirabellen, so trocken waren die Blütenpflanzen.

„Du blöde Sau!“, „Du altes Schwein!“, „Fresssack!“ oder einfach „Du Arschloch!“ sagte sie zu den Schmähern ihrer Früchte und steckte die fünf Mark ein. Auch kleine Kinder, die ihre Füßchen wohlgezielt und mit Schwung auf der Straßenhändlerin Hinterteil platzierten, wurden so beschimpft. Das war dann ein Ereignis, vor allem für die Fremden. Mittags setzte sie sich auf eine Bank und verzehrte ihre Käsebemme. Wenn sie in diesem verwundbaren Zustand von gemeinen Kindern erspäht und belästigt wurde, konnte sie nicht zurücktreten.

Mindestens acht Stunden täglich war sie im Stadtzentrum auf den Beinen. Das machte sie zum Mythos. Man fragte sich, woher sie kam. Bürger folgten ihr abends über die Landstraße zu ihrem Dorf, um es herauszufinden.

Ihr Mann sei gestorben und nun bringe sie sich mit dem Ertrag ihres Gartens durch, versuchten die einen ihre Beweggründe zu erklären. Ihr Sohn schlage sie, wenn sie nicht jeden Abend Obst in Geld umgewandelt habe, sagten andere. Sie mache das für verschiedene Bauern und erhalte für das abgelieferte Geld eine Tasse Kaffee, sagte sie selbst einmal, und einer glaubte ihr.

Nun ist sie weg. Vielleicht, weil die Verwaltung ihr Innenstadtverbot auferlegt hat, vielleicht, weil sie gestorben ist. So unlieb einem die Vorstellung auch ist, aus heiterem Himmel wieder von ihr angesprochen zu werden – sie fehlt.

Dieser Text in der Fassung des journal d’ami.

Berlin. (berlz/mjeu/majo) Mein Text über ein Weimarer Original wurde 2000 zuerst in der Berliner Zeitung abgedruckt. Der zuständige Redakteur Martin Z. Schröder trieb mich zu starkem Redigieren an, so dass diese Fassung des Textes mit Sicherheit die kompakteste und prägnanteste ist – gleichzeitig ist es aber nicht meine Lieblingsfassung. Die Längen, die er entbehrt, enthalten viele Eigenheiten meines Schreibstils und ich mag daher zum Beispiel die Fassung aus dem ▲journal d’ami lieber – ohne, dass die perfekter wäre.

In der nächsten Woche in Gedrucktes: Eine weitere, leicht veränderte Fassung dieses Textes, die in der Thüringischen Landeszeitung (TLZ) erschien.

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