Freiburg ist nicht, was du denkst

Kann uns keiner erzählen, dass wir keine Ratte in einem Labor wären. Freiburg ist eigentlich gar keine Stadt, sondern eine Versuchsanordnung. Freiburger sind eigentlich keine Bürger, sondern eine Stichprobe, die unter ständiger Beobachtung steht. Freiburg ist nichts anderes als ein Experiment aus der praktischen Politikwissenschaft. So verdreht, überzeichnet und unwahrscheinlich, wie alles in Freiburg passiert, kann es sich nur um ein Experiment unter methodisch überzogenen Bedingungen handeln.

Ein Beispiel: Als wir vor einem guten Jahrzehnt nach Freiburg kamen, stellte sich heraus, dass es sich um eine grün regierte Stadt in einem stockschwarzfinsteren, brutal konservativen Bundesland handelte. Eine Enklave, ein Pixelfehler im politischen System. Eine Anomalie, so grell und aus der Reihe wie das Dorf der unbeugsamen Gallier und nur mit etwas ähnlich Unwahrscheinlichem wie einem Zaubertrank erklärbar. Freiburg, die Stadt mit dem grünen Oberbürgermeister und der grünen Ratsmehrheit im Stadtparlament. Wo die CDU höchstens die zweite Geige spielt – obwohl sie im umliegenden Ländle seit fünfzig Jahren unangefochten regierte, als wäre Adenauer erst gestern vom Rosenzüchten zurückgekommen.

Das ist seit der letzten Landtagswahl natürlich anders. In einer wie man so sagt erdrutschartigen Verschiebung der Machtverhältnisse, in einem Super-GAU für die Union, wurde der Grüne Kretschmann Ministerpräsident von Baden-Württemberg und die SPD regiert das Land als Juniorpartner in einer grün-roten Koalition mit. Sehen Sie, was passiert? Wenn nicht, ist das nicht so schlimm. Ich fasse es gleich noch mal zusammen. Wichtig ist: Freiburg ist längst einen Schritt weiter. Die neueste Entwicklung ist, nach den Kommunalwahlen vom letzten Sonntag: 13 Listen sind im Freiburger Gemeinderat vertreten. Jede Liste, die angetreten ist, hat mindestens einen Platz errungen. Wer in den Freiburger Gemeinderat wollte, der wurde auch rein gelassen.

Wollemerseroilasse?

Das ist offensichtlich ein Fake: Jeder, der wollte, ist mit seiner Liste im Stadtrat vertreten. Jetzt ärgern Sie sich bestimmt genau so wie wir, dass Sie nicht auch noch zur Wahl angetreten sind. Sie sind sich nicht sicher, ob Sie ein Thema gehabt hätten? Ausreden. Schauen Sie sich mal um: In diesem Versuchsaufbau ist jede denkbare Haltung oder Nichtmeinung erlaubt. Neben den Grünen als starker bürgerlicher Kraft selbstverständlich die „große“ schwarz-rote Opposition. Aber auch die FDP, bundesweit schon eine Nicht-Partei, findet in Freiburg noch statt. Knapp unter fünf Prozent mutmaßlich nur per Kannibalisierung durch Freie Wähler, einer Art FDP für Arme. „Freiburg Lebenswert“ hat drei Mandate mit dem Wahlkampfthema (festhalten!): Keine Häuser in Städten! Linke Liste, Unabhängige Frauen und Kulturliste sind traditionell für die Polemik zuständig, bekommen aber Konkurrenz von dem Satireprojekt „Die PARTEI“ – sehr meta. Früher war die Presse als vierte Gewalt für Satire zuständig, heute findet sie als Live-Kommentar in der Politik statt. Wir dürfen gespannt sein. Coinneach McCabe bleibt als alternativer Grüner (Freiburger Codename für „Grüne wie früher“) im Rat. Sogar die Liste „Politik aus christlicher Verantwortung“, deren Vertreter an Gott glaubt (sic!), durfte rein. Ob die kommunalpolitische Ambition der Evangelikalen auf Verwirrung um das Wort „Gemeinde“ als säkularem Synonym für „Stadt“ beruht, ist noch nicht ganz klar. Und schließlich ist mit David Vaulont auch wieder ein Vertreter von Junges Freiburg in den Stadtrat gewählt.

Sehen Sie jetzt, was passiert? Die ausgewerteten und inzwischen publizierten Ergebnisse der ersten Studien aus dem Politiklabor Freiburg werden sukzessive im größeren Rahmen umgesetzt. Grüne Herrschaft wird nun schon in Großstädten und auf Landesebene ausprobiert – nachdem die In-vitro-Experimente in Freiburg ergeben haben, dass das jahrelange Leben unter grüner Ägide zwar nicht immer hygienisch, aber auch nicht überdurchschnittlich gesundheitsschädlich ist. Bislang konnten keine Todesfälle kausal auf eine grüne Herrschaft zurückgeführt werden und auch Staat, Gesellschaft, Solidarprinzip, Menschenwürde, Abendland, Zivilisation und das ganze Zeugs sind nicht eingegangen. Während die Testreihe „Grüne Politik laufen lassen und mal sehen, was passiert“ inzwischen die nächste Stufe gezündet hat, wird im Labor Freiburg eine neue Studie eingeleitet: Lassen wir mal alle politischen Kräfte aufs System los und kucken, ob auch dann nichts Schlimmes passiert.*

*Über Forschungsfragen lässt sich nur spekulieren, aber es geht wohl in die Richtung: Sind radikale Kräfte eigentlich so radikal, wie alle sagen? Gibt es eine kritische Masse an politischen Kräften in einem demokratischen Parlament, ab der nichts mehr funktioniert? Oder ab der im Gegenteil alles besser wird? Wenn man ein Gremium mit Vertretern aller denkbaren Meinungen und Splittergruppen besetzt – nivelliert sich dann der demokratische Output in Richtung einer schlauen Schwarmintelligenz?


Ist es nicht eigenartig?

Für die Hypothese von Freiburg als Labor spricht, dass an der hiesigen Universität ein gut ausgestattetes Seminar für wissenschaftliche Politik existiert. Wissenschaftliche Politik, mind you, nicht Politik-Wissenschaft. Dortselbst laufen mindestens zwei Projekte, die wir im Verdacht haben, verschlüsselte Verantwortung für das Experiment Freiburg zu tragen: „Abstimmungsverhalten in multilateralen Verhandlungen“ und „Überzeugungsstrategien im politischen Entscheidungs- und Reformprozess“. Aber vielleicht ist das Experiment auch so geheim, dass es nicht mal auf der Website der Universität Freiburg steht.

Freiburgs Oberbürgermeister ist Politikwissenschaftler. Er hat einen Doktor in Politikwissenschaft. Wozu braucht ein praktischer Politiker einen Hintergrund in Politik-Wissenschaft? Mehr noch: Wozu braucht er einen Doktortitel? Der Doktortitel ist die Voraussetzung, um an deutschen staatlichen Forschungseinrichtungen selbstständig forschen zu dürfen. Und das bedeutet was? Dieter Salomon ist in Wahrheit kein Politiker – er ist der Studienleiter!

Als Argument für unsere Hypothese anführen möchten wir auch noch Freiburgs geographische Lage. Wenn Sie es mit einem möglicherweise gefährlichen Laborexperiment zu tun hätten – sagen wir, mit einem tödlichen Virus oder einer abstrusen, alle Extreme zulassenden Anordnung aus politischen Kräften – wo würden Sie dann Ihr Labor bauen? Oder, anders gefragt: Wenn Sie Frankreich wären und Sie hätten ein marodes, kaputtes, erdbebengefährdetes Atomkraftwerk – in welchen Teil Ihres Landes würden Sie es hinstellen? So kam Freiburg auf seine Schwarzwaldlichtung. Ganz unten links, hinter den sieben Bergen, wo Deutschland gerade noch nicht zu Ende ist, werden wir unter politische Quarantäne gestellt und ausgeforscht.

Und der Sinn von alledem? Wir können es nicht wissen, weil wir Teil des Experiments sind. Wir können nur mutmaßen. Grundlagenforschung? Konflikttheorie? Angewandte Systemtheorie? Freiburg wäre demnach die eigentliche Bielefeld-Verschwörung. Vielleicht ist Freiburg auch installiert als ein Anziehungspol für Spontis, Antifas und Wagenburgler? Alles, was radikal ist, soll denken: Freiburg, da geht das, da zieh’ ich hin. Leprainsel für Revoluzzer. Das wäre auch eine Erklärung für die bräsige, verbürgerlichte Selbstzufriedenheit des ökologischen Mainstreams hier unten: Die Fliegenfalle muss gerade anziehend genug sein, damit sie kommen; aber aus der Nähe betrachtet reaktionär genug, damit sie bleiben, weil sie sich an etwas abarbeiten können. Parkplatzlose Wagenburgler, polizeilich verhinderte Maifeiern, kommunaler Ordnungsdienst gegen spontane Stadtnutzung, ein paar subtil drapierte Studentenverbindungen … der reinste Kratzbaum für die Katzenkrallen aus der politischen Peripherie.

Jetzt werden Sie vielleicht noch einwenden: So einmalig ist Freiburg doch gar nicht. Tübingen hat nun auch schon mehrere Jahre einen grünen Oberbürgermeister. Ebenfalls mehrere Jahre, bevor das Experiment auf Landes- und Landeshauptstadt-Ebene ausgeweitet wurde. Und Tübingens Boris Palmer sei sogar noch viel grüner als Dieter Salomon: Salopper angezogen, streitlustiger, unrasierter – und radikaler Fahrradfahrer. Aber spricht die fehlende Einzigartigkeit etwa dagegen, dass Freiburg ein Laborexperiment ist? Nein. Überlegen Sie mal: Jede aussagekräftige Studie muss Daten in einer Vergleichs-Stichprobe erheben. Wissen Sie, was wir Freiburger dann vielleicht sind? Die Placebogruppe.


Dieser Artikel erschien zuerst am 29. Mai 2014 auf Martinstor – Das Martins-Blog.

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3 Kommentare

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3 Antworten zu “Freiburg ist nicht, was du denkst

  1. Ann4Bold

    *glucks* XD
    Natürlich ist Freiburg eine Placebogruppe, bei der Menge an Homöopathen per capita!

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  2. Pingback: „Welche Antwort braucht dieses Land?“ | martinJost.eu

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