Es war einmal, so vor einem Jahr, in Amerika

Nochmal wegen Donald Trump: War er nun ein zynischer Charakter oder einfach durchgeknallt?

Wieso war? Donald Trump ist, soweit es ihn betrifft, auf dem Weg zurück. Seine Pressekonferenz zum ersten Jahrestag des Sturms auf das Kapitol hat er erst kurzfristig abgesagt. Das war vielleicht knapp, sagen wir mal.

Wir lesen gerade Michael Wolffs «Landslide». Es ist das dritte Buch des Reporters in gut drei Jahren, in dem er das Innenleben des trumpschen Weißen Hauses schildert. Für ein Buch ist es hochaktuell: Ende Januar 2021 hat er nach eigenen Angaben mit dem Schreiben begonnen, bereits im letzten Sommer ist es nicht nur in den USA, sondern auch international in Übersetzungen erschienen.

Wir als gelernter Althistoriker interessieren uns normalerweise nicht für Geschichte, die noch so frisch ist. Es ist alles noch grün und wird in den kommenden Jahren noch anders gewichtet und bewertet werden. Wissenslücken, die sich erst noch schließen, vervollständigen die Geschichte nicht bloß, sie verändern sie in der Regel auch maßgeblich.

Weckt mich, wenn die Geschichte fertig ist

In diesem Fall hat uns die Aktualität aber doch angezogen. Der siebentägige Wahlabend, das endlose Warten auf die Stimmenauszählung, die Frage, ob Trump nun freiwillig aus dem Weißen Haus auszieht oder ob der Möbelwagen mit den viereckigen Rädern kommen muss, Four Seasons Total Landscaping … wir haben es alles gerade erst von unserem Smartphone gewischt und wir sind immer noch ein bisschen aufgeregt.

Fast noch interessanter: Wir sind immer noch fassungslos über die Persönlichkeit von Donald Trump. Die Frage, ob eine solche Persönlichkeit von berechnender, tiefer Bosheit gefüttert werden kann oder schlicht verrückt ist, beschäftigt uns nach wie vor. Michael Wolff hat für die ersten beiden Folgen seiner Trump-im-Weißen-Haus-Trilogie, «Fire and Fury» und «Siege» und jetzt für «Landslide» unglaublich viele Interviews mit seinen Mitarbeitenden und Vertrauten geführt und – erstaunlich, nachdem Trump durchaus zur Kenntnis genommen hat, dass die Bücher ihm nicht gerade schmeicheln – auch wieder mit Trump persönlich. Wir wüssten nicht, wer ein besseres Bild von der Persönlichkeit des Präsident Trump haben soll als Michael Wolff.

«Landslide» handelt von den letzten knapp 80 Tagen in Trumps Amtszeit, von der verlorenen Wahl über die haltlosen Wahlfälschungsvorwürfe, den Sturm aufs Kapitol am 6. Januar 2021 bis zum Auszug der alten Regierung.

Wolffs große Leistung: eine gründlich recherchierte und dabei gut erzählte Chronik der Ereignisse. Er ist ein guter Erzähler, der sich in journalistischem Duktus auf Schilderungen von Zeugen stützt – in der Regel ohne Ausschmückungen, Mutmaßungen oder szenisches Erzählen. Wolff hat einen Sinn für Rhythmus: Er weiß, wann er detaillierter schildern muss und wann er Zeit raffen kann. So nimmt der Wahlabend im November 2020 viel Raum ein, ebenso die Ereignisse am 6. Januar 2021 an verschiedenen Schauplätzen in Washington, D.C. Über die Wochen dazwischen lesen wir zum Teil in gröberen Zügen.

Wolff weiß auch, wann er möglichst zurückhaltend, fast trocken die absurden Vorgänge im Weißen Haus schildert und wann er sich mit Wertung nicht zurückhalten darf. Hier und da benennt er Wahnsinn als Wahnsinn und verständigt sich so mit uns Lesern über die Realität: “(The world might find itself with a collective exploding head, but inside Trumpworld, moving on and doing so quickly was what you did—)”

This is not normal!

Wolff beschreibt ein Weißes Haus, das im Herbst und Winter 2020 immer leerer wird. Zuerst der Wahlabend, an dem trotz Corona alle aufeinander hocken, in kleinen, ungelüfteten Besprechungsräumen. 

Wir erinnern uns, wie antiklimaktisch die Auszählung der Wahlergebnisse verlief. Wer gehofft hatte, noch in der Wahlnacht zu erfahren, ob Trump sicher abgewählt ist, konnte damit rechnen, am nächsten Morgen nervös und verunsichert zu sein. Aber wir alle mussten noch Tage auf ein relativ sicheres Wahlergebnis warten, das Trump dann prompt nicht anerkannte. Und tatsächlich hat ja in absoluten Zahlen mehr Stimmen bekommen als je ein amtierender Präsident in der Geschichte. Dass Joe Biden nur eben mehr Stimmen hat und dass sich die Mehrheitsverhältnisse während der Auszählung noch lange nach dem Wahlabend so grundsätzlich verändern, das kann er nicht glauben. Jetzt, so redet er sich ein und bestätigt es sich immer wieder selbst, jetzt „finden sie“ genau die Stimmen, die ihm seinen Sieg nehmen.

Darauf hatte er seit Sommer 2020 hingearbeitet, indem er wiederholt behauptete: Ein Wahlsieg Joe Bidens sei überhaupt nur durch Wahlbetrug, gesteuert von den Demokraten, denkbar

Immer wieder brechen Trump-Mitarbeiterinnen und ‚Vertraute‘ in seine Gemächer auf oder wählen sich in eine Telefonkonferenz – nicht ohne vorher auszumachen, dass sie ihm aber diesmal wirklich deutlich die Wahrheit sagen. Im Fahrstuhl zurück nach unten betretenes Schweigen: Es hat sich wieder keiner getraut oder aber der Präsident hat sie einfach plattgemacht, wie so oft, mit seinen Tiraden über die angeblich gefälschte Wahl und den „erdrutschartigen“ Sieg, den man ihm zu nehmen versuche. (‚Erdrutsch‘ auf Englisch: ‘Landslide’ – woher das Buch seinen englischen Originaltitel nimmt.)

Die Politprofis im Weißen Haus – also ausdrücklich nicht der Präsident – wussten, wann es vorbei war. Wenn ein Wahlkampf verloren ist, packt man als Mitarbeiter*in der Kampagne normalerweise seine Sachen und schreibt Bewerbungen. Aber der Chef blieb unter Spannung und steigerte sich in die Vorstellung, dass der wahre Wahlkampf gerade erst losgeht: der juristische Kampf um die Stimmen in den Bundesstaaten, in denen er seiner Meinung nach haushoch gewonnen hatte. 

Wer nicht für die Wahlkampagne arbeitete, sondern für die Regierung, war wohl oder übel noch im Boot. Doch von Konsolidierung, Nachbereitung, Zelte abbrechen oder „Landeanflug“ keine Rede. Alle sind müde und nervös. Die Motivation, sich für Trumps neuestes Ziel zu engagieren, geht allen ab. Wobei es ihm ohnehin niemand recht machen kann, der nicht nach Trumps Maßstäben den vollen Erfolg (hier: Wahlsieg) einfährt.  

Jared Kushner ist einer der Abwesenden. Trumps Schwiegersohn hält sich zugute, normalerweise der „Erwachsene“ im Oval Office zu sein und den Filter zwischen Donalds Wahnsinn und der Außenwelt zu bilden, ohne den alles nur noch schlimmer wäre. Kushner ist in diesen Tagen im Nahen Osten. Er hält seine Friedensinitiative für ein grandioses politisches Projekt, das ihn unsterblich machen soll.

Kushner gehört auch zu denen, die den ehemaligen New Yorker Bürgermeister Rudy Giuliani immer auflaufen ließen, ihn auf Abstand  zum Präsidenten hielten. Giuliani hat Trump bei früheren Gelegenheiten juristisch vertreten. Er ist auf seine eigene Art völlig irre. Jetzt kommt sein großer Auftritt: Rund um Trump ist es still. Alle ducken sich weg. Giuliani kommt Trump gerade recht: Er verspricht ihm mehr, als der sich selber ausmalen könnte. Fantasiert und flüstert ihm ein, mit was für einer genialen Strategie sie juristisch erzwingen werden, dass Trump zum Wahlsieger erklärt wird. Teil des Plans ist, dass Bundesstaaten andere Bundesstaaten wegen deren vorgeblich schlechter Durchführung der Wahl verklagen.

Giuliani und die wenigen, wechselnden Mitarbeitenden tun sich schwer, Anwälte zu finden, die ihre aberwitzigen Klagen für sie einreichen – aus Angst, ihre Lizenz zu verlieren. (Wie es um die Anwaltslizenz des früheren New Yorker Bürgermeisters Giuliani steht, der seit Jahrzehnten nicht mehr praktiziert hat, ist ihm wohl selbst nicht ganz klar.)

Auch, als ein Gericht nach dem anderen ihre Klagen ablehnt – über 50 mal sind sie bis Dezember 2020 abgeblitzt –, reden Giuliani und Trump einander ein, dass das bloß notwendige Schritte durch die Instanzen wären. Je schneller die Gerichte ihre Anträge abweisen, desto eher kommt das Verfassungsgericht zum Zuge. Dieses hat Trump in seiner Amtszeit eigenhändig mit drei stramm konservativen Richter*innen besetzt. Da in seiner Welt eine Hand die andere wäscht, ist er wieder einmal fuchsteufelswild, als auch das oberste Gericht sein Ansinnen ohne Verhandlung abweist.

Doch sein seniler Rechtsstratege und er haben schon einen neuen Plan, bei dem sie auf die Hilfe von Mike Pence setzen. Der Vizepräsident, so meinen sie, könne und müsse bei der zeremoniellen Zertifizierung der Stimmen der Wahlleute am 6. Januar im Kongress eingreifen. 

Der lange Herbst

Dass die Verfassung dem Vize so weitreichende Kompetenzen überhaupt zugesteht, glauben zu jeder Zeit lediglich Giuliani und Trump. Für die verbliebenen Mitarbeitenden bedeutet das – genau wie für uns Zuschauer –, dass sich der Machtwechsel noch quälend lange hinzieht. Am Ende sind die meisten getürmt: Am Morgen nach den Ereignissen vom 6. Januar schreiben zwei Presseleute aus Donald Trumps Team hin und her und fragen sich, wie sie ein Statement des Präsidenten an die Presse durchgeben können. Und zwar ganz praktisch: Es ist niemand im Büro, niemand hat mehr einen heißen Draht zu den Fernsehsendern und der Twitter- und der Facebook-Account von Donald Trump sind inzwischen gesperrt. Dabei haben sie ihm mit Müh und Not eine Formulierung abgerungen, in der er Bidens Wahlsieg zwar nach wie vor nicht anerkennt, aber zumindest eine „geordnete Amtsübergabe“ nicht ausschließt.

The "Homer Simpson disappears into a Hedge" gif meme.

Jetzt erinnern wir uns wieder, wie nervös wir selbst vor einem Jahr waren: Wann ist dieser Wahnsinn endlich vorbei? Wann schert dieser Mann sich zum Teufel? Wird er uns wirklich nicht die Genugtuung bieten, wenigstens ein bisschen gedemütigt zu sein? Wir haben ernsthaft überlegt, erst wieder Nachrichten zu hören, wenn alles vorbei ist.

Dass nun nach und nach Dokumente öffentlich werden, die die Ereignisse vor allem rund um Dreikönig vor einem Jahr anschaulich machen,  ist ein Erfolg der Untersuchungskommission zum 6. Januar im US-Repräsentantenhaus sowie von investigativen Journalisten. So berichtet die Nachrichtenseite Talking Points Memo, dass am 6. Januar vor einem Jahr eigentlich geplant war, dass die Demonstranten nach Donald Trumps Rede vom Weißen Haus aus am Kapitol vorbei marschieren und am Obersten Gerichtshof eine zweite Kundgebung abhalten (ohne dass die Organisatoren den Marsch angemeldet hätten). TPM zitiert unter anderem aus Messenger-Chats der Organisatoren: »There Was ANOTHER Rally Planned On Jan. 6 At The Supreme Court« 

In einem anderen Bericht schreibt die Seite, dass der Untersuchungsausschuss übereinstimmende Aussagen gehört hat, denen zufolge Donald Trump während des Sturms auf das Kapitol Fernsehen schaute. Trotz mehrmaliger Bitten unter anderem von seiner Tochter Ivanka lehnte er es ab, die Gewalt zu verurteilen. »Cheney: Jan. 6 Committee Has ‚Firsthand Testimony‘ Trump Resisted Pleas To Stop Attack«. Nach und nach bestätigen die Untersuchungen der Kommission und die herausgegebenen Dokumente Details, die Wolff schon in seinem Buch schreibt. Laut seiner Einleitung enthält es keine Fakten, die ihm nicht mehrere Quellen bestätigt haben.

Auf die Berichte bei TPM brachte uns die Historikerin Heather Cox Richardson mit ihrem sehr gutem Newsletter «Letters from an American». Am 2. Januar 2022 schreibt sie zum Beispiel über Unterlagen, die der Untersuchungsausschuss von Bernard Kerik erwirken will – darunter Strategiepapiere von Rudolph Giuliani oder Trumps ‚Handelsexperte‘ Peter Navarro, die Kommunikation nach der verlorenen Wahl betreffend. Sie belegen ebenfalls einen Plan, den schon Wolff in seiner Oral History dokumentiert: Die ständige öffentliche Wiederholung der Wahlfälschungs-Vorwürfe und der haltlosen Belege sollten gezielt Unsicherheit verbreiten. Ihre Winkelzüge, Anhörungen und Pressekonferenzen sollten ihnen Sendezeit vor einem möglichst großen Fernsehpublikum verschaffen. Ausdrücklich nach der Maßgabe: Niemand muss uns glauben, es reicht schon, wenn sie an der Wahrheit zweifeln. Und es hat ja auch funktioniert: Laut einer aktuellen Umfrage glauben 30 Prozent aller Amerikaner und sogar 70 Prozent der Republikaner, dass Joe Biden kein rechtmäßig gewählte Präsident ist.

Er ist wieder da

Auch bei uns hat es funktioniert. Wir haben zwar zu keinem Zeitpunkt an der ordentlichen Wahl Bidens gezweifelt. Aber haben wir etwa gewusst, wie aussichtslos Giulianis Klagestrategie war, selbst aus Sicht von radikalen Richter*innen? Konnten wir etwa sicher sein, dass die Verfassung dem Vizepräsidenten bei der Zertifizierung der Wahlleute nicht mehr als eine zeremonielle Rolle zugesteht (und dass Giulianis historische ‚Präzedenzfälle‘ absolut untauglich sind)?

Michael Wolff zufolge hätten wir viel ruhiger schlafen dürfen. Aber unsicher waren wir trotzdem, denn es kam ja im Fernsehen: Rudy Giuliani hat einen Plan. Wir sind keine Experten für US-Verfassungsrecht oder -Geschichte. Und hatte nicht George W. Bush damals gegen Al Gore gewonnen, wegen irgendwas Juristischem rund um die Auszählung der Stimmen aus Florida?

Four Seasons Total Landscaping; die Pressekonferenz, bei der Giuliani die Haarfarbe durchs Gesicht läuft – Ereignisse aus dem Herbst 2020 und wir hatten sie schon wieder halb vergessen. Pandemie hat unser Zeitgefühl wirklich kaputt gemacht. Diese Schwänke sind nicht lange her und wirken doch schon historisch. Es ist kurios, über Zeitgeschichte zu lesen, die kaum aus unserem Nachrichten-Feed gerutscht ist.

Wolff beendet sein Buch mit einem Epilog, in dem er Trump zu einem persönlichen Gespräch in dessen Club Mar-a-lago trifft. Trump geht davon aus, dass er nach wie vor das Machtzentrum der Republikanischen Partei ist und dass er die Zeit bis zur nächsten Präsidentschaftswahl am besten nutzt, indem er künftige ‚Unregelmäßigkeiten‘ bei Wahlen verhindert. Präsident Trump ist nicht weg, er wartet nur auf seine nächste Chance.

Wenigstens in der Frage, ob er ein bösartiger Zyniker ist, der skrupellos lügt – oder ein Egomane, dem schlicht jeder Sinn für die Realität fehlt, ist Michael Wolff zu einem eindeutigen Schluss gekommen: Letzteres.

“The manic and idiotic nature of his view is perhaps the strongest argument against his cynicism—he was in the weeds of fixation and delusion.”
Und:
“It was a dramatic leap to credit him with intent [in der Frage, ob er die Erstürmer des Kapitols am 6. Januar 2021 aufgewiegelt hatte]. It suggested an ability to join cause and effect, and the logic of a plan, that anyone who knew him or had worked with him certainly understood he did not possess.”

Wolff 2021 (155; 274)

Und obwohl Trumps Realität nicht im selben Universum liegt wie unsere, werden wir ihn in dieser Realität nicht so bald loswerden.


Was wir als nächstes lesen wollen:

  • «The Fifth Risk» – Michael Lewis’ Recherche über die ausgefallene ordentliche Machtübergabe in der US-Regierung zu Beginn von Trumps Amtszeit.
  • Niklas Luhmann: «Legitimation durch Verfahren»
  • Michael Wolffs andere Bücher, vor allem die ersten beiden Teile der Trump-Trilogie.

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