Freiburg • martinJost.eu
Das war wohl nichts. Baden-Württembergs erster Volksentscheid hat das Quorum nicht erreicht, obwohl er bundesweit verglichen ein Volksentscheid mit hoher Beteiligung war. Aus meiner Sicht war er trotzdem erfolgreich: Wir haben einmal durchprobiert, wie das eigentlich wäre mit dieser direkten Demokratie. Und dabei ist überhaupt nichts Schlimmes vorgefallen. Kein Mensch ist gestorben oder so.
Für mich eine Überraschung: Die gefühlte Mehrheit gegen Stuttgart 21 war tatsächlich nur eine gefühlte. Von denen, die zur Volksabstimmung gegangen sind, hat eine Mehrheit mit „Nein“ votiert und damit gegen das S21-Kündigungsgesetz und damit für eine Verbuddelung des Stuttgarter Hauptbahnhofs für etliche Milliarden Euro Baukosten. (Nebenbefund: Die gefühlte S21-Gegnerschaft mag ich so stark empfunden haben, weil ich in der Stadt mit der deutlichsten Mehrheit gegen das Bauprojekt lebe. Selbst in Stuttgart proper gab es dagegen keine Mehrheit dagegen.)

Der damalige Ministerpräsident Stefan Mappus stellt sich Stuttgart-21-Gegnern. Nicht. • Foto: Martin Jost
Vorbei ist es nicht. Ohne erreichtes Quorum ist wieder alles offen. Der Ball ist zurück im Parlament. Dass sich der Tiefbahnhof-Bau in Stuttgart mit dem versuchten Volksentscheid nicht ein für alle mal entschieden hat, ist ja nicht schlimm. Eine der spannendsten realpolitischen Fortsetzungsgeschichten ist um eine weitere Staffel verlängert worden. Das Volk, auf das die repräsentative Demokratie die Entscheidung abwälzen wollte, hat praktisch gesagt: Es ist lieb, dass ihr uns fragt, aber wozu haben wir euch eigentlich gewählt? Ihr seid unsere Vertreter, ihr seid dank unserer Stimmen an der Macht, jetzt findet euch damit ab, dass ihr es nicht allen recht machen könnt und kommt mal klar, wofür ihr steht. Was ist denn das Schlimmste, das passieren kann? Dass die rot-grüne Landesregierung in Baden-Württemberg zerbricht. Das würde mir keinen Spaß machen, ich habe sie schließlich eben erst gewählt. Aber wenn uns wirklich nichts Schlimmeres blüht, ist das eine ziemliche Luxussorgenfalte.
Wie ich mich entschieden habe
Was mir zu denken gibt: Die Entscheidung in dieser Volksabstimmung war so komplex wie eine politische Meinung überhaupt sein kann. Die Stunden, die ich mich intellektuell mit dem Thema auseinandergesetzt habe, reichten mir gerade aus um zu erkennen, dass ich noch lange keinen fundierten Einblick in das Thema haben kann. (Dazu kommt, dass die Fragestellung des Volksentscheids so kompliziert war, dass sie jeder Parodie spottete. Es ist nicht wenig wahrscheinlich, dass sich eine Menge mündige und vergleichsweise informierte Bürger verkreuzt haben, weil sie intuitiv Ja und Nein nicht verdrehten. Dieses Argument wird uns vonseiten der Stuttgart-21-Gegner in der Nachbereitung des Volksentscheids noch eine Weile verfolgen.)
Gleichzeitig war es mir auch sehr egal. Ob der Stuttgarter Bahnhof nun ober- oder unterirdisch ist, interessiert mich mäßig. Ich steige da noch nicht mal um. Schön war das Bahnhofsgebäude jedenfalls nicht. Infrastruktur unter der Erde finde ich irgendwie praktisch. Und überhaupt: die Entscheidungen sind lange gefällt, die angemessenen Abstimmungswege wurden beschritten und Geschäftsleute, die mit den Aufträgen eine Menge Mitarbeiter auf Jahre durchbringen wollten, haben sich auf die Gültigkeit ihrer Verträge mit dem Land und der Bahn verlassen. Von daher hätte ich mir nicht angemaßt, über das Verkehrsprojekt entscheiden zu können.
Worum es für mich die meiste Zeit über bei dem Volksentscheid ging: Eine Abstrafung der schmutzigen und bösen schwarzen Mappusregierung, die im März diesen Jahres abgewählt wurde. Wer das Grundrecht von Schülern auf körperliche Unversehrtheit und das Augenlicht von passiv Widerstand leistenden Bürgern der Vertragstreue der öffentlichen Hand und vielleicht ein paar hunderttausend Euro Verlust am Tag unterordnet wie bei den Demonstrationen vor einem Jahr im Stuttgarter Schlosspark, gehört in meiner Welt nicht nur abgewählt, sondern verurteilt und bestraft. Ein Bauwerk, das so böse Männer durchgezwungen haben, ist zu böse um gebaut zu werden.
Kurz vor Schluss noch in der Sache zur einen Seite tendiert bin ich eigentlich erst in der Woche vor dem Entscheid. Wer hat mich überzeugt? Boris Palmer. Tübingens grüner Oberbürgermeister fackelte bei einer Podiumsdiskussion in Freiburg ein rhetorisches Feuerwerk ab, gegen das der seriöse, sachliche und auf seine Art authentische EU-Kommissar und Ex-Ministerpräsident Günter Oettinger nicht ankam. Obwohl ich zu meiner Schande gestehen muss, dass das Thema mich immer noch nicht so vom Hocker reißt, dass ich die Podiumsdiskussion nicht in erster Linie ob ihres Unterhaltungswerts geschaut hätte, bin ich nebenbei noch überzeugt worden, dass der geplante Tiefbahnhof zu teuer ist, schlecht geplant und nicht zukunftsfähig. Mit diesen Argumenten im Hintergrund habe ich jetzt zum ersten Mal über ein einzelnes Gesetz abgestimmt. Ich bin gespannt, ob die Gelegenheiten dazu in Zukunft mehr werden oder ob man letztendlich doch die klassische Abgeordnetenlaufbahn einschlagen müsste, damit einem ein solcher Entscheid noch einmal zugetraut wird.
Auch noch:
- Fehler im System: Stuttgart-21-Bug-Report
- Zum Scheitern verurteilt: Mappus macht Wahlkampf für Stuttgart 21
- Stuttgart, November 2010: Herbst für die öffentliche Meinung
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