«Red Penguins» 🐧 Diese Doku lässt uns über Russland lachen und schaudern zugleich

Red-Penguins-Titelgrafik

Moskau in den frühen Neunzigerjahren: Der Zusammenbruch des sozialistischen Staats war so vollständig, dass praktisch Anarchie herrscht. Aber nicht die gute Art: Versorgungsketten reißen, in der Hauptstadt gibt es zeitweise zu wenig Essen. Irrsinnig viele Waffen sind im Umlauf. Die Stärkeren nehmen sich, was sie wollen. Gerechtigkeit hat Pause, Menschenleben sind Peanuts.. Auf der Straße kann man ohne Weiteres zum Mordopfer werden. Die Staatsgewalt ist mit Putschen beschäftigt, während die späteren Oligarchen ihre Saat ausbringen und mafiöse Strukturen wachsen.

Dieses Bild zeichnet die Doku «Red Penguins» von der ersten Zeit nach dem Ende der Sowjetunion. Ob alle Hauptstädter*innen die gefährliche Anarchie so erlebt haben, können wir nicht beurteilen. «Red Penguins» triggert jedenfalls die Angst vor der russischen Höllenstadt Moskau anno ’90 und wir denken: Nicht mal für ein paar Millionen Dollar würden wir da hinziehen.

Wild, Wild East

Steve Warshaw sah das anders. Der junge New Yorker Marketingprofi soll aus dem bankrotten Eishockeyteam der Roten Armee einen Geldautomaten machen. Investoren aus den USA haben sich Anteile an der Mannschaft gesichert und ein Joint Venture mit den Pittsburgh Penguins gestartet. Mit westlicher Sportvermarktung wollen sie Gewinne erzielen, bevor die talentierten Spieler alle von US-Teams weggekauft werden.

Der Kulturclash zwischen westlichem Entertainment-Kapitalismus und rohem Postkommunismus ist der rote Faden des Films. Aus amerikanischer Sicht braucht eine Eishockeymannschaft ein freches Logo, schicke Trikots, Sponsoring, Spiele mit viel Event-Klimbim und am besten noch einen Filmdeal mit Disney. Aus Sicht des russischen Trainers Viktor Tikhonov sollte ein Eishockey-Team vor allem Eishockey spielen. Und Team-Manager Valery Gushin meint, für ein marmornes Spa im Keller müsse das Geld auch noch reichen.


«Red Penguins»

🎞 USA, Russland, Deutschland 2020
Autor, Regisseur, Produzent: Gabe Polsky

Bewertung: 4 von 5.

Mehr: Wikipedia


Steve Warshaw hat den Wahnsinn knapp überlebt. Heute, in New York, ist er älter geworden, aber nicht weniger einfallsreich und flippig. Auf seine Moskauer Jahre blickt er als eine abenteuerliche Zeit in seinem Lesen. Seine russischen Kollegen sehen manches abgebrühter. Aus Valery Gushins Pragmatismus spricht zwar keine eigene Brutalität, aber es scheint durch, mit was für einem harten Alltag er sich arrangiert hat.

Vor Russland mal wieder gruseln

Zwei Stilmittel machen «Red Penguins» sehenswert: Der Einsatz von historischem, zum Teil verstörenden Archivmaterial; sowie das Gegeneinanderschneiden der in New York beziehungsweise Moskau gedrehten Interviews. Die Protagonisten auf russischer und amerikanischer Seite sind sich offenbar seit Jahren nicht begegnet. Autor und Regisseur Gabe Polsky montiert ihre Parts so, dass manchmal ein Dialog entsteht. Dabei zeigt sich dann, wie weit ihre Bezugsrahmen und Weltbilder auseinanderliegen. Aber auch, dass ihre konflikthafte Beziehung durchaus von Wertschätzung geprägt war. Ist das Nostalgie oder wahre Liebe unter Männern? Einmal fragt Polsky aus dem Off, ob Gushin und Warshaw einander als Freunde betrachten. Die folgende Verdruckstheit ist ein komischer Höhepunkt des Films.

In einer Zeit, in der der Name Russlands mal wieder Furcht und Beklemmung auslöst, ist es vielleicht eigenartig, einen Film anzuschauen, der uns auch noch mit dokumentarischen Rückblicken auf rohe Gewalt triggert. Andererseits: Zeigt «Red Penguins» eine Momentaufnahme aus Russland auf dem Weg ins Heute, die die Kompromisslosigkeit und Dünnhäutigkeit seiner Politik erklärt? Und wenn «Red Penguins» auch nicht repräsentativ die russische Kultur zeigen kann, ist es zumindest ein anschauliches Beispiel dafür, wie weit man aneinander vorbeireden kann, wenn man den Kalten Krieg mental in verschiedenen Blöcken zugebracht hat.

Mehr:

Hinterlasse einen Kommentar

Eingeordnet unter 06 Martin Josts Kulturkonsum, Blog-Exklusiv, Kulturgeschichte der Neunziger, Martin kuckt

Sag, was du denkst!

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..